Solferino und San Martino della Battaglia

Ein komplettes menschliches Gerippe ist doch recht raumgreifend:

 

Deswegen – und wohl auch, weil komplett erhaltene Gerippe gar nicht so häufig vorhanden waren – kam man in Solferino auf eine andere Idee. Man zerlegte die aufgefundenen Gebeine und ordnete die Knochen übersichtlich und platzsparend nach ihren Körperfunktionen, Oberschenkelknochen, Hüften und so weiter, vor allem aber Schädel:



 

 

Im Ossuarium von Solferino werden 1413 Schädel und die Gebeine von weiteren 5500 Soldaten aufbewahrt, nebenan in San Martino della Battaglia noch einmal 1274 Schädel und die Knochen von insgesamt 2619 Gefallenen, alles in allem also etwa ein Viertel der weit über 30.000 Toten des grauenvollen Gemetzels, das als Schlacht von Solferino in die Geschichtsbücher einging – vor allem, weil sie über die Initiativen von Henri Dunant zur Gründung des Roten Kreuzes führte.

 

Solferino bildete den Mittelpunkt einer Front, die sich vom Gardasee über Hügel, Anhöhen und Erhebungen bis in die Poebene zog. Auf einer Länge von zwanzig Kilometern standen sich 170.000 Österreicher und 150.000 Franzosen und Italiener gegenüber. Die Schlacht begann gewissermaßen zufällig, am Morgen des 24. Juni 1859. Die Kontrahenten hatten – so berichtet Henry Dunant in seiner “Erinnerung an Solferino“ – keinen Plan: „Die Östreicher kannten den Plan Napoleons nicht und waren überhaupt ohne jede genauere Nachricht über die feindlichen Bewegungen. Auch die Alliierten glaubten nicht, so schnell der Armee des Kaisers von Östreich zu begegnen; denn die Recognoscirungen, die Beobachtungen und Berichte der Plänkler, sowie die während des 23. in die Höhe gelassenen Luftballons ließen in keiner Weise die Spur einer neuen feindlichen Offensivbewegung oder gar eines Angriffsplans entdecken. So war also, trotzdem daß beide Theile sich auf eine demnächstige und große Schlacht vorbereitet hatten, der Zusammenstoß der Östreicher und der Franco-Sarden am Freitag den 24. Juni ein gegenseitig überraschender, Dank der Unkenntnis der Heerführer über die gegnerischen Bewegungen.“ 

Die Zehntausende von Toten und Verwundeten waren auch Opfer der Unfähigkeit ihrer Anführer. Vittorio Emanuele II. – so erzählt Ulrich Ladurner, dessen Urgroßvater in Solferino gekämpft hatte, in seiner „Kleinen Geschichte eines großen Schauplatzes“ – „befahl mal eine Gruppe zum Angriff, mal die andere. Er war ganz und gar unfähig, seine Kräfte zu konzentrieren und dann zu einem Schlag gegen die gut verschanzten Österreicher auszuholen. So viel Planung entsprach nicht seinem Temperament. Ihn dürstete nach Heldentaten. Seine Generäle ritten ihm kopfschüttelnd hinterher.“ – Für den österreichischen Kaiser Franz Joseph aber ist die Schlacht eine Fortsetzung seiner geliebten Kinderspiele. Als er am Morgen des 24. Juni vom Frühstück aufsteht, stellt er überrascht fest, dass die Schlacht bereits im vollen Gange ist: „Er mochte sich jetzt nach der Ordnung seiner Zinnsoldaten gesehnt haben, die so leicht herzustellen war, denn hier auf dem Schlachtfeld herrschte ein heilloses Durcheinander.“ Wiki ergänzt: „Die Dispositionen des jungen Kaisers Franz Joseph hatten erheblichen Anteil an der Niederlage.“

In Italien gilt die Schlacht von Solferino als entscheidende Etappe zur Bildung eines einigen Italien. Eine Gruppe von Patrioten gründete 1870 die Gesellschaft San Martino e Solferino (die noch heute besteht und sich um die Gedenkstätten kümmert), um die Erinnerung an die Opfer der Schlachten und an tutti coloro che combatterono per l’Unità e l’Indipendenza d’Italia hochzuhalten. Der Bau von Gedenkstätten wurde beschlossen, die Bauern, die zehn Jahre zuvor die Toten in Massengräbern verscharrt hatten, gruben sie nun wieder aus, innerhalb von sechs Monaten legte man 9000 Skelette frei.

 

Übrigens ging es den Gebeinen in Solferino und San Martino vergleichsweise gut. Zwar wurden sie nicht, wie auf dem Berg Athos, in Wein gewaschen, blieben aber immerhin erhalten, anders als in Waterloo, wo sie zwanzig Jahre nach der Schlacht gierig ausgegraben wurden: Die heimische Industrie wollte sie unbedingt haben, weil das aktuelle Angebot an Tierknochen nicht ausreichte, und kaufte alles auf, was sie kriegen konnte. „Der Aufstieg der Zuckerindustrie in Belgien begann 1833. Preis und Nachfrage nach Knochen explodierten förmlich, weil die Fabriken die Knochen zu Knochenkohle verarbeiteten. Die wurde für die Filter benötigt, die zum Einsatz kamen, um den Zucker zu entfärben.“ (Lorenz Hemicker, in der FAZ vom 18.8.22) Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu  sterben…

 

Das Museum am Eingang der Allee, die zum Ossuarium von Solferino führt (das neben Schlachtgemälden, Waffen und dergleichen auch prächtige Portraits der Generäle und Offiziere zu sehen, die den Tod der Zehntausende verantworteten), scheint mir entbehrlich; die Rocca von Solferino, ein 1022 erbauter Turm, der spätere Spia d’Italia, ist ein Muss.

La Rocca

Auch hier sind viele Huldigungen an die Befehlshaber der Schlacht untergebracht, aber auch eine Projektion der Namen der Opfer, eine lange Liste, die (wie mir der Kustos erzählte) immer noch ergänzt wird:

Totenlisten

Von der Plattform des „Spion von Italien“ hat man eine wunderbare Sicht auf die umgebende Hügellandschaft und, im Dunst in der Ferne, den südlichen Gardasee:

 

 

Ein gutes Dutzend Kilometer entfernt liegt San Martino della Battaglia, in einer anmutigen Gegend:

San Martino bietet noch einmal das gleiche Ensemble: Ein Ossuarium, ein Turm mit spektakulärer Aussicht und ein kleines Museum liegen unmittelbar nebeneinander, alles vielleicht noch etwas gepflegter als in dem bekannteren Solferino:

 

Der Weg zum Ossuarium ist von Mahnmalen der an den Kämpfen beteiligten Einheiten oder Waffengattungen gesäumt, wie zum Beispiel dem etwas merkwürdigen der Bersaglieri:

 

Außerdem liegt direkt neben Turm und Museum die unbedingt empfehlenswerte Osteria della Torre, mit einer wunderbaren Aussicht und, jedenfalls im Sommer 2024, einer sehr guten Küche und liebenswürdiger Bedienung. Hier kann sich von den Knochen erholen und dann zu den anderen Sehenswürdigkeiten der Gegend aufbrechen, nach Sirmione vielleicht, nach Valeggio sul Mincio oder in den wunderschönen Parco della Sigurtà, hier dokumentiert.

 

Mögen die Toten, die wir zurücklassen, in Frieden ruhen. Die Auseinandersetzungen, die sie hierher brachten, sind ihnen vollkommen gleichgültig. Im Grabe ruhen sie, so wird es uns in mehreren Sprachen erklärt, zusammen als Brüder:

 

 

 

Meine Quellen:

  • Ulrich Ladurner, „Solferino – Kleine Geschichte eines großen Schauplatzes“, im Residenz Verlag
  • Paul Koudounaris, „Im Reich der Toten“, im Verlag H.F. Ullmann
  • Henry Dunant, „Eine Erinnerung an Solferino“, online verfügbar
  • die Website der Società Solferino e San Martino
  • die Wikipedia-Artikel zu Henry Dunant, Solferino und San Martino della Battaglia

Die Photos stammen von mir.