Der folgende Beitrag ist dem Angedenken an Robert Nett gewidmet. Er nahm mich damals mit ins Hirschbachtal; ohne seine Leidenschaft für Geschichte, ohne seine Findigkeit, Beharrlichkeit und Souveränität wäre das Folgende niemals entstanden.
Das „Deutsche Stadion“ und sein Modell
Es war noch im alten Jahrtausend, auf einer gemeinsam mit der fränkischen Verwandtschaft unternommenen Radtour im Hirschbachtal, etwa 40 Kilometer östlich von Nürnberg.
Ich hatte meine Mitradler gebeten ohne mich vorauszufahren, und schlug mich, um einem menschlichen Bedürfnis nachzugehen, an einem Hang nahe der Ortschaft Oberklausen seitwärts in die Büsche. Auf der Suche nach einem für mein Vorhaben geeigneten Platz stieß ich plötzlich auf einen riesigen, verwitterten und teilweise überwachsenen Betonklotz. Neugierig geworden stieg ich ein wenig bergauf und fand immer mehr und verschiedenartige rätselhafte Betonbauten, manche davon mit rostigen Armierungseisen.
Meine Mitradler waren inzwischen besorgt umgekehrt und warteten unruhig bei meinem an der Straße abgestellten Rad. Ich berichtete ihnen von meinen Entdeckungen, und wir stiegen gemeinsam in diesem Großgerümpel umher und diskutierten, warum es sich handeln könnte: Wasserwirtschaftliche Einrichtungen? Eine Verteidigungsanlage wie der Westwall? Oder Reste einer geplanten und dann nicht realisierten Autobahn, wie etwa die Strecke 46, die vergessene Autobahn zwischen Spessart und Rhön:
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Einige Kilometer entfernt hielten wir im „Goldenen Hirsch“ Rast. Die fränkischen Verwandten erkundigten sich bei einer Gruppe alter Herren, die im Biergarten Schafskopf spielten, nach den rätselhaften Bauten in Oberklausen. Als Norddeutscher verstand ich von den Verhandlungen so gut wie nichts, nur ein Satz ist mir noch erinnerlich, den die Alten nicht nur einmal, sondern zwei- oder dreimal wiederholten: „Des hamma ois ned gwissd.“
Diese Mentalität des Verbergens und Verschweigen sollte uns damals – immerhin etwa 1995, in einer Zeit vor Internet und den Socials – immer wieder begegnen. Die neugierig gewordenen Verwandten ließen sich aber nicht aufhalten, und fanden zum Beispiel bei Besuchen im Nürnberger Stadtmuseum einige verblüffende Bilder auf:
Ein Bild aus der zweiten Hälfte des Jahres 1938, der Hang bei Oberklausen. Unten erkennt man Werkgebäude mit unklarem Zweck und einige Fahrspuren, auf dem Hang offenbar hölzerne Aufbauten auf Betonfundamenten, in dreierlei Neigungsstufen.
Ebenfalls aus der zweiten Hälfte von 1938. Links Beleuchtungsmasten, rechts der Mitte wohl Gleise für einen Lastenaufzug, rechts oben entsteht ein größeres Gebäude.
Rechts oben der nun weit fortgeschrittene, sogar mit reichen Ornamenten maurischen Stils versehene hohe und imposante Bau. (Das Bild ist übrigens wohl eine zeitgenössische Fälschung, eine Montage – einen Felsen, der diese Perspektive ermöglicht, gibt es im Hirschbachtal nicht.)
Im Vordergrund Albert Speer, damals noch „Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt“; im Talgrund Holzstämme, die darauf warten, in die Hangkonstruktion eingebaut zu werden. Speer, der die Gruppe anführt, wirkt sehr selbstbewusst im offen getragenen pelzbesetzten Mantel.
Ein Bild aus der Nürnberger Zeitung vom 22. März 1938. Auf Adolf Hitler und Speer folgt der damalige Nürnberger Oberbürgermeister Willy Liebel. „Am Montag weilte der Führer in Nürnberg, um sich von dem Fortgang der Bauarbeiten auf dem Reichsparteitagsgelände zu überzeugen. Dabei besichtigte der Führer auch das im Hirschbachtal in der Hersbrucker Schweiz errichtete Teilmodell des deutschen Stadions.“
Unfassbar – was hier mit ungeheurem Aufwand gebaut wird, ist nicht die Sache selbst, ist nur ein Modell, ein „Teilmodell“, allerdings eines im Maßstab eins zu eins. Die Sache selbst ist das „Deutsche Stadion“, für das Reichparteitagsgelände in Nürnberg, 40 Kilometer entfernt, vorgesehen – das Nonplusultra nationalsozialistischer Gigantomanie.
Das war der Plan: das größte Stadion aller Länder und aller Zeiten. In ihm würden nach dem Weltsieg des Nationalsozialismus für immer die Olympischen Spiele stattfinden. Der Bau wäre bedeutend größer gewesen als die benachbarte Kongresshalle und als die Nürnberger Lorenzkirche:
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Albert Speer, der Architekt dieses irrwitzigen Unternehmens, überspringt auf der Suche nach einem passenden Vergleich vier Jahrtausende: „Die Cheopspyramide, um 2500 v. Chr. erbaut, umfasst bei 230 Metern Länge und 146 Metern Höhe 2 570 000 Kubikmeter. Das Nürnberger Stadion wäre 550 Meter lang und 460 Meter breit geworden und hätte einen umbauten Raum von 8 500 000 Kubikmeter aufgewiesen, also rund das Dreifache der Cheopspyramide. Das Stadion sollte das bei weitem größte Bauwerk dieses Geländes [i.e. des Reichsparteitagsgeländes] und eines der gewaltigsten der Geschichte werden.“
Mehr als 400.000 Zuschauer sollte das „Deutsche Stadion“ fassen, soviel wie alle Einwohner des damaligen Nürnberg zusammen. Speer ignorierte alle international üblichen Normen für Sportstätten. Die Nutzfläche war mit 53.000 Quadratmetern dreimal größer als die des Berliner Olympiastadions konzipiert. Und nie war es genug: Speer veränderte bis 1942 in seinen Planzeichnungen und -entwürfen laufend die Bauelemente des Stadions und vergrößerte dabei von Mal zu Mal die Maße, bis das Stadion schließlich mit 130 Metern anderthalbmal so groß war wie zu Planungsbeginn.
Speers architektonische Vision basierte auf einem hufeisenförmigen Grundriss, der sich am Olympiastadion des antiken Athen orientierte. Zwei Türme begrenzen an den Polen des Hufeisens die Außenseite der Arena. Auf ihrer Spitze stehen auf überdimensionalen, pyramidenförmig gestuften Fundamenten zwei monumentale Standbilder: riesige Hoheitsadler oder auch Figurengruppen, dazwischen auf dem Gesims des Stadions ein Kranz von Feuerschalen; am Ende der beiden Tribünenwangen befinden sich ebenfalls monumentale Standbilder, gestaltet von dem Bildhauer Josef Thorak.
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Die Kosten spielten keine Rolle. O-Ton Speer: „Wir überschlugen, dass das Nürnberger Stadion 200 bis 250 Millionen Mark, also nach heutigen Baupreisen [1968] rund eine Milliarde DM kosten würde. Hitler zeigte keine Bedenken: ‚Das ist weniger als zwei Schlachtschiffe vom Typ Bismarck. Wie schnell wird ein Panzerschiff zerstört, und wenn nicht, ist es in zehn Jahren sowieso Schrott. Aber dieser Bau, der steht noch in Jahrhunderten.’“
Die Grundsteinlegung war am 9. September 1937, während des „Reichsparteitag der Arbeit“ – 24.000 Ehrengäste und Personen der Parteiformationen, der Wehrmacht, der Polizei und des Reichsarbeitsdienstes: alles Männer. Neben einem Modell war auf einem eigens dafür angelegten Platz an der Großen Straße ein Granitblock als symbolischer Grundstein aufgestellt.
Im November darauf begannen die Arbeiten: eine Ringdrainage an der Außenseite der Baustelle, eine große Grundwasserpumpanlage, Baustraßen und 20 Kilometer Bahngleise, Lagerhallen, Großkantinen, Firmengründungen, Konzentrationslager in Steinbrüchen… Speer hatte einen „genau ausgearbeiteten Zeitplan“: Das Stadion sollte „zum Parteitag des Jahres 1945 [!] fertiggestellt sein“.
Was aber wurde tatsächlich realisiert? Auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg wurde in der Baugrube des „Deutschen Stadions“ bis zum Beginn des Jahres 1942 eine Grundwasserhaltung betrieben. Die riesige Fundamentausschachtung füllte sich in der Folgezeit mit Grundwasser und es entstand „im Kriege ein malerischer See“ (Speer). Nach 1945 wurde in der Nähe jedoch Abbruchmaterial der zerstörten Stadt Nürnberg gelagert, darunter erhebliche Mengen von teils kritischen Müll. Aus dieser Hochdeponie, dem „Silberbuck“, flossen hochgiftige Substanzen in den „Silbersee“, so dass das Baden dort verboten werden musste. – Das ist es also, was von all den hochfliegenden Plänen geblieben ist: ein giftiger Tümpel.
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Lange Zeit stand der „Grundstein“ noch an der originalen Stelle, in einem wild überwucherten Waldstück in der Nähe des Messegeländes. Zweimal habe ich ihn besucht, vor und nach der Jahrtausendwende, beide Male war der Platz voller Müll und Fäkalien.
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Der Stein wurde mehrfach verlegt, das erste Mal 2003. Der Abbruch des Originalsteines geschah in aller Heimlichkeit: Als das Messeunternehmen dort ein Parkhaus errichten ließ, wurde das Relikt zum Depot des Hochbauamtes gebracht. Erst im März 2007 kehrte er von dort zurück, an die Große Straße, und steht heute an prominenter Stelle, mit einem erläuternden Kommentar.
Rochus Misch, „Hitlers Telefonist, Kurier und Leibwächter“, erzählt, dass Hitler die Gespräche mit Speer über die Kolossalprojekte außerordentlich genoss, auch noch 1943, als die gemeinsamen Phantasien schon mehr als fragwürdig waren. „Hitler liebte die Gespräche mit Albert Speer über architektonische und städteplanerische Fragen. Man konnte meinen, die alliierten Luftangriffe seien nichts weiter als nur der willkommene Auftakt für all die wunderbaren Neugestaltungen der Städte, die die beiden entwickelten. Wenn Hitler sich gemeinsam mit dem Generalbauinspektor in Plänen und Zeichnungen vergrub, war er meistens guter Laune.“ Die Modelle bereiteten dem Diktator besondere Freude.
Das Modell des „Deutschen Stadions“ hat den Krieg nicht überstanden. Etwa 500 Meter westlich, Richtung Innenstadt, früher Wodanplatz – heute Platz der Opfers des Faschismus – war ein sogenanntes Modellhaus errichtet worden, in dem alle Modelle für das Reichsparteitagsgelände gelagert wurden. In den letzten Kriegstagen wurde es samt Inhalt zerbombt.
Das heute im Dokumentationszentrum auf dem Reichsparteitagsgelände gezeigte Modell ist für die Filmdokumentation „Speer und Er“ angefertigt worden.
Und noch zwei Kuriositäten nebenbei: Es gibt auch ganz vereinzelt fröhliche Nachnutzungen von Nazi-Errungenschaften in Nürnberg. Man beachte die Weihebecken auf der Zeppelintribüne, jetzt Planschbecken in einer Badeanstalt, und das Umspannwerk, das das gesamte Reichsparteitagsgelände mit Strom versorgte, jetzt eine Filiale einer bekannten Fast-Food-Kette.
Zurück ins Hirschbachtal. Auf Speers Wunsch wurde ein Hang etwa mit der Neigung des „Deutschen Stadions“ ausgesucht, der sich mit dem Stockbühl (heute im Volksmund „Stadionberg“) bei Oberklausen in der Abgeschiedenheit der Fränkischen Schweiz fand. In den Jahren 1937 bis 1939 wurde ein Teilmodell des „Deutschen Stadions“ im Maßstab 1:1 mit gewaltigen Ausmaßen errichtet: zwei Segmente der Zuschauerränge mit einer Breite von je 27 und einer Höhe von 76,6 bzw. 82 Metern. Damit wollte man die zu erwartenden Sicht- und Hörverhältnisse im Stadion bei verschiedenen Neigungswinkeln (27,2 und 30 Grad) studieren und die Anordnung der Sitzreihen und Stützen prüfen. Auf dem bereits oben einmal gezeigten Bild sieht man im obersten Segment der Hangkonstruktion einen rechteckigen schwarzen Fleck: wohl eine Gruppe von 60 Arbeitern, die als Testpersonen über die von ihnen gesehenen und gehörten Vorführungen im Tal Auskunft geben sollten.
All diese Zahlen verraten kaum den unglaublichen Aufwand, der allein für das Modell betrieben wurde: Für die Baustelle wurde die Hirschbachaue aufgefüllt, eine Sägewerk und eine Kleinbahn wurden errichtet. Tag und Nacht wurde gearbeitet, das Gelände durchgehend bewacht.
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In seinen Erinnerungen schreibt Albert Speer lapidar: „Wir studierten an einem Hang etwa gleicher Neigung, dessen Unebenheiten wir durch eine Holzkonstruktion ausglichen, ob auf den oberen Rängen den sportlichen Vorführungen noch zu folgen war; das Ergebnis war positiver als ich angenommen hatte.“ Und auf der heutigen Infotafel am Fuß des „Stadionberges“ ist zu lesen: „Auf der streng bewachten Baustelle arbeiteten 400 Zimmerleute und Arbeiter der näheren und weiteren Umgebung, um ein Zehntel des Stadions mit 42.000 Sitzplätzen zu errichten.“ Hier und da bleibt ungesagt, dass hier auch Kriegsgefangene und Zwangsverpflichtete schuften mussten.
Nach 1945 wurden die Holzaufbauten auf Forderung der US-Militärregierung entfernt. Die Betonfundamente stehen seit 2002 unter Denkmalschutz, ganz anders als damals, im alten Jahrtausend, als ich sie für mich entdeckte. Auf der jetzt, im Juni 2025, aktuellen Webpräsenz des Hirschbachtals wird das Modell des „Deutschen Stadions“ mit keinem Wort erwähnt. Das Hirschbachtal, heißt es da, sei ein Kleinod der Natur, beschaulich, lieblich, von Gott bewahrt.