Haibun der Woche 3 – 19. Januar 2025

Für ganz kurze Zeit lebten wir in einem kristallenen Paradies. Die Wintersonne ließ die magere Schneedecke funkeln und leuchten, die von einer zarten Eishülle umfassten kahlen Äste der Bäume glänzten und blitzten auf. Wenn wir vor die Tür traten, grüßten wir einander mit einem Lächeln.

 

Weiß überall, endlich.
S
anft tanzende Schneeflocken,
f
lüchtig und vollkommen. 

 

Die Sechsjährige von nebenan hatte im Vorgarten mit zwei Klassenkameradinnen einen Schneemann bauen wollen. Aber obwohl sie den Schnee eifrig mit Eimern  zusammentrugen, reichte es nicht. Und am nächsten Tag war es ja auch schon wieder vorbei, der Winter hielt nicht durch. Die Mädchen schauten sich die Überreste ihrer Arbeit an und machten Pläne für das nächste Mal. Plötzlich schrie eine der drei auf, bückte sich, wischte etwas im Schnee herum und erhob sich wieder, mit einer kleinen goldenen Kette in der Hand. Begeistert erzählte sie ihrer Großmutter, die sie wenig später abholte, dass sie ihren Schmuck wiedergefunden habe. „Siehst du, der liebe Gott meint es gut mit dir“, sagte die Großmutter freundlich. Die Kleine rollte unwillig mit den Augen.

 

Schmutziger Schnee
d
arunter verborgen
ein
 Schatz

 

Wolfgang Volpers

 

 

Birgit Wendling kommentiert:

Die Geschichte schlägt einen gelungenen Bogen vom kristallenen Paradies, das für jeden sichtbar funkelt und leuchtet bis zum verborgenen Goldschatz unter dem schmutzigen Schnee. Da ist auch ein schöner Kontrast zwischen dem harten, kühlen Silber des Winters und dem warmen Funkeln einer goldenen Kette. Dazu die Beziehung zur Oma, also zwischenmenschliche Wärme, während der ersehnte Schneemann am Anfang zwar Spaß macht, aber eigentlich ein kalter Geselle ist. Es gibt auch noch tolle andere Aspekte wie die gute Laune, die man beim Anblick von Schönheit bekommt. Die beiden Haiku sind rund und passen sehr gut. Insgesamt ein Haibun, das eine sehr gute Beobachtungsgabe und Selbstreflexion voraussetzt.