Rätsel ohne Lösung
Das siebte Streichquartett von Dmitri Schostakowitsch
Die erste Probe
Neun Uhr morgens, im Probenraum. Wir freuen uns eigentlich auf ein Quartett von Anton Dvořák, das „Amerikanische“, aber der Primarius legt die Noten eines Quartetts von Dmitri Schostakowitsch auf die Pulte, nicht das berühmte Achte, das wir schon oft gespielt haben, sondern den uns völlig unbekannten Vorgänger, das siebte Streichquartett op. 108. Wir beginnen in Takt eins.
Was für eine merkwürdige Musik. Sie klingt leblos, wie abgestorben, als sei ihr jeder Ausdruck ausgetrieben worden. Ständig, so kommt es uns vor, müssen wir dieselben Formeln, die wie Alltäglichkeiten anmuten, wiederholen. Die Musik scheint etwas zu verbergen: Da ist Melancholie, da ist so etwas wie unterdrückte Panik. – Nun probieren wir den Schluss, sagt der Primarius. Ein Walzer setzt ein, mürbe und trocken, jedenfalls eine Musik, zu der niemand tanzen möchte.
Wir sind ratlos – aber keiner von uns vier Musikern ist unwillig, alle wollen sich weiter mit dem Stück auseinandersetzen, wollen hinter die Maske schauen. Eine Musik voller Rätsel – Grund genug, ihr einige Aufmerksamkeit zu schenken.
Schostakowitschs Ehefrauen
„Eines Tages“, so erinnert sich Galina Wischnewskaja, „rief Dmitri Dmitrijewitsch an und bat uns, zu ihm zu kommen. Bei ihm angelangt, öffnete uns eine stattliche junge Frau, die Dmitri Dmitrijewitsch uns mit den Worten vorstellte: ‚Das ist Margarita, meine Frau.‘ Zunächst konnten wir uns keinen Reim darauf machen. Wer war sie? Woher kam sie? Noch gestern hatte er sie mit keinem Wort erwähnt.“ Schostakowitsch hatte Margarita im Juli 1956 kennengelernt und sie kurz entschlossen gefragt: „Möchten Sie meine Frau werden?“ Krzysztof Meyer erzählt: „Die völlig verblüffte junge Frau, die den großen Komponisten zum erstenmal in ihrem Leben sah, scheint sich rasch gefangen zu haben und bejahte seine Frage.“
Diese Partnerschaft konnte nicht gelingen. Weder konnte Margarita einen Kontakt zu Schostakowitschs Kindern herstellen noch hatte sie ein Verständnis für seine Arbeit. Immerhin hielt die Ehe bis 1959. „Eines Tages“, so Krzysztof Meyer, „floh Schostakowitsch nach Leningrad und erklärte, dass er erst dann nach Hause zurückkehren würde, wenn Margarita seine Wohnung verlassen habe.“ Die Scheidungsangelegenheiten überließ er seinem Sohn Maxim, er selber kümmerte sich um sein Streichquartett Nr. 7.
Die Quartette Nummer sieben, acht und neun, meint Stephen Harris, bilden aufgrund der Widmungen eine geschlossene Untergruppe innerhalb der fünfzehn Schostakowitsch-Quartette: „They are ‘personal‘ quartets.“ Das neunte Quartett ist der dritten Ehefrau Irina Antonovna gewidmet. Das achte Quartett trägt die offizielle Widmung „Im Gedenken an die Opfer des Faschismus und des Krieges“, ist tatsächlich jedoch – schrieb Schostakowitsch selbst – „gewidmet dem Andenken des Komponisten dieses Quartetts“.
Das siebte Quartett aber widmete Schostakowitsch dem Andenken an seine erste Frau Nina, die 1954 einem Krebsleiden erlegen war. Im Jahr der Komposition, im Jahr nach der Scheidung von Margarita Andrejewna Kainowa, hätte sie ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert.
Das Siebte im Überblick
Das siebte ist Schostakowitschs kürzestes Quartett; die Dauern der auf YouTube verfügbaren Einspielungen reichen von 12’01 bis 13’50 Minuten. Das Werk ist dreisätzig:
I Allegretto (218 Takte)
II Largo (76 Takte)
III Allegro – Allegretto (362 Takte)
Der dritte Satz ist zweiteilig, ein schneller Abschnitt (mit der aberwitzigen Metronomangabe Viertel gleich 176), dann ein ruhiger, walzerartiger zweiter Teil, so dass sich im Grunde eine viersätzige Struktur ergibt.
Schostakowitsch plante offenbar 24 Quartette in allen Tonarten; in den fünfzehn vollendeten Quartetten wiederholen sich die Tonarten nicht. Mit der Tonart fis-Moll verlässt der Komponist den mit den ersten sechs Quartetten etablierten Tonartenplan. Auf C – A – F – D – B – G, also absteigenden Terzverwandtschaften, sollte eigentlich Es folgen – das Abweichen von diesem Muster ist wohl ein erstes Anzeichen für ein besonderes Anliegen dieser Musik.
Das siebte ist das erste Quartett in Moll. Stephen Harris, der sich ausführlich mit den Tonarten der Schostakowitsch-Quartette beschäftigt hat, nennt Vorbilder für fis-Moll: „Traditionell ist fis-Moll mit Schmerzen und Leid verbunden. Bach, zum Beispiel, verwendet fis-Moll in der Johannes-Passion, wenn der reumütige Petrus seine Schuldgefühle, seine Reue herausschreit.“ Allerdings ist für weniger als die Hälfte des Werkes fis-Moll vorgezeichnet – und unnötig zu sagen, dass fis-Moll bei Bach etwas anderes ist als bei Schostakowitsch. (Den Tonartenplan greift der Komponist erst mit dem zehnten Quartett wieder auf, um ihn dann bis zum letzten vollendeten Werk durchzuhalten.)
Der erste Satz, das Dreitonmotiv und die Viertonfolge
Die erste Geige eröffnet in ganz eigener Weise. Die Melodie – wenn es eine ist – fällt eine Oktave von fis’’ zu fis’ und benutzt dabei Noten, die sich so recht keiner Tonart zuordnen lassen und doch einen fis-Moll-Dreiklang umschreiben. Sie schließt mit einer Tonfolge, die banaler nicht sein könnte:

Dreimal derselbe Ton, drei Stakkato-Achtel vor einer kurzen Pause. Dieses simple Dreitonmotiv macht eine erstaunliche Karriere. Auf der ersten Seite der Partitur erklingt es – Varianten und Harmonisierungen nicht gerechnet – 13 mal. Es sorgt für die unmittelbare Fortführung

wie auch für den Schluss des Satzes, nun ruhig und zart gedehnt:

Im dritten Satz tritt es (nach einiger Abstinenz) im dreifachen Forte am Höhepunkt des Satzes auf:

Und es bildet, verklingend, den Schluss des gesamten Stücks:

Wenn die erste Geige in Takt 17 die Eröffnungsmelodie wieder aufgreift, gesellt sich in der Bratsche eine unscheinbare Tonfolge dazu, für die der Komponist poco espressivo vorschreibt:

Auch diese Viertonfolge – eigentlich nur ein Tonleiterausschnitt (Halbtonschritt-Ganztonschritt- Halbtonschritt) –

gewinnt im Verlauf des Stückes eine große Bedeutung (dazu später).
Nach einer kurzen Entwicklung leitet der Komponist zu einem neuen thematischen Gedanken über, der im Cello mit einer Umspielung des Es-Dur-Dreiklangs einsetzt. Die Musik verliert nun für eine kurze Weile das Gebremste und Bedrückte, vor allem wenn sich nach 20 Takten die erste Geige in das Spiel einmischt (und nach dem Es-Dur-Dreiklang mit der Viertonfolge fortsetzt):

Der Satz wird dichter, bleibt aber unkompliziert. Als Bratscher zitiere ich, etwas boshaft, zehn Takte meiner Stimme…

Zwei gegensätzliche thematische Abschnitte im ersten Satz eines Streichquartetts, das ist nun wirklich nichts Neues. (Von einer Sonatenform kann allerdings nicht gut die Rede sein.) Was jetzt aber, nach einigen wenigen überleitenden Takten, folgt, ist überraschend. Der gesamte erste Abschnitt wird „wiederholt“ (zunächst mit genauen Taktentsprechungen), aber in einer verblüffenden Metamorphose, in Rhythmus und Klang verwandelt: 3/8 Takt und pizzicato. (Die erste Geige spielt das Thema pizzicato, der erste Ton jeweils wird von der zweiten Geige, mit dem Bogen scharf angerissen, mitgespielt – ein beeindruckender Effekt.)

Dann kehren die Sechzehntelketten zurück, das zweite Thema – das zunächst das einzige Dur-Thema des gesamten Werkes gewesen war – erklingt nun in fis-Moll. Auf die gekürzte Wiederkehr dieses Abschnitts folgt eine kurze Coda: Das Dreitonmotiv beschließt den ersten Satz.
Der zweite Satz – Lento
„Eine einfache A-B-A-Form“ – so oder ähnlich kann man es in Kommentaren zu diesem Stück lesen. Das unterschlägt allerdings die Proportionen. Der Wiederholung des ersten Teils (nach dem mittleren B-Teil) ist keine. Der erste Teil ist 32 Takte lang, die Wiederaufnahme nur 10, also wenig mehr als eine Erinnerung – und eine Vorbereitung auf das Kommende.
Der gesamte Satz wirkt wie ausgezehrt, wie eine in Töne verwandelte Sprachlosigkeit. Nur in 18 seiner 75 Takte spielen alle vier Instrumente, über ein Drittel wird nur von einem Duo gespielt. Leise, gedämpft, setzt die zweite Geige mit einem leeren, an den Rändern erweiterten Grundton-Quinte-Muster ein,

darüber dann ein einsamer Gesang der ersten Geige. In der absinkenden Tonfolge verbirgt sich das erste Thema des ersten Satzes:

In die Begleitung wird die Viertonfolge eingewoben.

Mit einem langsamen Glissando schleichen sich Bratsche und Cello ins Geschehen, die dann nacheinander das Klagelied der ersten Geige fortführen. Die zweite Geige verlässt ihre Sechzehntel und leitet zu einem punktiertem Rhythmus über, der die Musik aber nicht lebendiger macht: mehr als 13 Takte verharrt sie auf dem cis’, dazu untergründig Cello und Bratsche mit ihren Klagemelodien.
Nicht ohne Überzeugungskraft interpretiert Stephen Harris diese Musik als eine Traumszene. „Mit dem Glissando von Bratsche und Cello verlassen wir die materielle Welt und gleiten in den Schlaf. In tiefen Schlaf hören wir mit den punktierten Rhythmen der zweiten Geige unser Herz klopfen, wir begegnen unseren verborgensten Gedanken, verstörend, drohend, voller Schuldgefühle, voller Sehnsucht, in Viola und Cello. Wenn die erste Geige sich wieder einmischt, gleiten wir langsam wieder ins Bewusstsein, das Herzklopfen verschwindet.“
Zum Schluss greift die Bratsche die Sechzehntel des ersten Abschnitts wieder auf. Die Viertonfolge übernimmt, nun auch in absteigender Richtung. Die Musik erlahmt, ohne dass sie zur Rube käme: Wir ahnen und fürchten den entsetzlichen Schock, der uns erwartet.

Der dritte Satz (zum ersten) – Allegro
Man kann kaum schrecklichere Musik für vier Streichinstrumente schreiben. Zum erstenmal in Schostakowitschs Streichquartettschaffen gibt es Klänge von solcher Wut, solcher Wildheit, gibt es solche Häufungen von scharfen Dissonanzen, solche aggressiven Attacken.
Das gilt schon für den Beginn. Fortissimo, aber mit Dämpfer, was gegenläufig ist, aber hier dazu dient, einen harten und gepressten Klang zu zeugen. Der kurze Prolog greift auf die Rhythmen der allerersten Takte des Werkes zurück, die er mit scharf dissonanten Akkorden grundiert.

In Takt 12 setzt die Bratsche mit einem Thema ein, das zum Ausgangspunkt eines Fugatos wird, das die Aggressivität der präludierenden Takte noch einmal steigert.

Verzweifelt, erschreckend aggressiv, voller Dissonanzen und Gegen-den-Takt-Betonungen, steigert sich die Musik von Takt zu Takt. Im Tumult der Instrumente erklingt plötzlich das Thema des langsamen Satzes, nun wie rasend, bissig und wütend.

Am Höhepunkt erklingt die Musik der allerersten Takte des Quartetts, nun im Fortissimo und im dissonant-akkordischen Satz.

Nun ist keine Steigerung mehr möglich. Mit dem dreifachen Forte des Dreitonmotivs beginnt eine Rückentwicklung, die in eine ganz neue Welt führt.
Der dritte Satz (zum zweiten) – Allegretto
Wieder ein verblüffender Wandel der Gestalt. Kein Ton ist geändert, und doch ist alles anders. Aus dem borstigen Fugato-Thema wird nun ein etwas melancholischer Walzer.

Aber so richtig wird es nichts mit dem Walzer (den Schostakowitsch ja auch nicht so nennt). Da sind schon im Thema die eingeschobenen 2/4-Takte, auf die zwar Walzerrhythmen folgen, aber eine etwas orientierungslos um den Ton D kreisende Melodie. Und statt eines walzermäßigen hm-ta-ta gibt es nur sparsame, unregelmäßige Begleitungstupfer. Später stellt sich dann Musik aus dem ersten Satz wieder ein, das Dreitonmotiv kehrt zurück. Die Walzermelodie setzt immer wieder noch einmal an, hat aber irgendwann ihre Kraft verloren und mündet in eine müde absinkende Akkordfolge (die so ähnlich schon im ersten Satz erklungen war), diese wiederum in eine walzermäßige Begleitfigur, der aber der Schwerpunkt, die Eins, und damit der Halt abhanden gekommen ist.
Eine stille Coda, die ganz ähnlich, in einer nur wenig lebhafteren Variante, schon den ersten Satz beendet hatte, führt zu drei (!) zarten Fis-Dur-Akkorden, mit denen das Werk. schließt.
Rätsel ohne Lösung
Ein Dutzend Proben mit diesem Stück haben wir nun hinter uns. Noch immer gibt uns diese merkwürdige Musik Rätsel auf. Der erste Satz mit seiner – vielleicht absichtsvoll – reduzierten melodischen und thematischen Erfindung, der ausgezehrte, karge zweite Satz am Rande des Verstummens, das wüste Allegro des dritten, zum Schluss der allmählich verrinnende Walzer. Mehr als zu Beginn unserer Arbeit empfinden wir die Einsamkeit des Lento, und die Melancholie des Allegretto-Walzers. Der Kern des Quartetts ist für uns inzwischen das Fugato im ersten Teil des dritten Satzes, ein Zentrum, auf das alles zuläuft und auf das sich alles Folgende rückbezieht.
Eine Interpretation dieser Musik, die die Biographie miteinzubeziehen versucht, bliebe haltlos und ohne Grund. Spekulationen sind legitim, bleiben aber Spekulationen. Die grässlichen Klänge des Fugatos mag man in Verbindung mit der Erkrankung und dem plötzlichen Tod Nina Wassiljewnas zusammendenken, zwingend ist dies nicht. Wie würden die anderen Teile des Quartetts in diese storyline passen? Nichts ist beweisbar.
Beweisbar ist die thematische Konzentration dieser Musik. Alles hängt mit allem zusammen, die thematischen Gestalten wandeln sich und kehren verändert und gemodelt zurück. Das Fugenthema des dritten Satzes ist eine Espressivo-Gegenstimme aus dem ersten und ein Element der Begleitung aus dem zweiten Satz und nimmt gleichzeitig die Punktierungen aus dem Mittelteil des Lento in sich auf. Die beiden Schlusstakte des letzten Satzes sind eine Umformung von Takt 3 des ersten.
Auffällig ist eine Stelle zu Beginn des dritten Satzes. Nach einem ersten wütenden Ansatz spielt die Bratsche unbegleitet diese vier Noten:

Wenn man diese vier Noten – nämlich die die Musik des Quartetts wesentlich mitbestimmende Viertonfolge – ein wenig versetzt

und ein wenig schüttelt, erhält man

Die Noten D-Es-C-H aber sind die musikalische Signatur Dmitri Schostakowitschs. Diese Tonfolge wird zum Dreh- und Angelpunkt des berühmten achten Quartetts in c-Moll, das nur einige Monate später als das hier behandelte siebte Quartett entstanden ist.