Aus dem tiefen Grund der Vergangenheit
Niels Wilhelm Gades „Nachklänge von Ossian“

 

Es war einer der größten Betrüge der Literaturgeschichte.

In den 1760er Jahren veröffentlichte der schottische Schriftsteller James Macpherson eine Reihe von „Übersetzungen“ aus dem Gälischen, Gesänge eines blinden Sehers namens Ossian: Berichte von Helden, von Kämpfen, vom Tod in der Schlacht, und immer wieder Klagen, nicht nur um die Toten, sondern auch um die, die in einsamer Trauer zurückbleiben. Zwar gab es von Anfang an auch misstrauische Stimmen, die die Authentizität dieser Dichtungen anzweifelten, die „Gesänge des Ossian“ wurden trotzdem ein ungeheurer Erfolg und begeisterten weit über die Grenzen Schottlands hinaus eine ganze Generation von Dichtern, Musikern und Malern. Goethe zitierte den „Homer des Nordens“ seitenweise in seinem Werther, Schubert und andere komponierten Lieder, Napoleon ließ sich für sein Schlafzimmer ein Ossianisches Riesengemälde malen. Dass der Betrug irgendwann aufflog – Macpherson hatte die angeblich uralten Texte selbst verfasst – war da schon nebensächlich und blieb weitgehend unbeachtet.

Unter den produktiven Reaktionen auf die falschen Gesänge ragt hervor die Konzertouvertüre Nachklänge von Ossian, das Opus 1 des Dänen Niels Wilhelm Gade (1817 – 1890), der mit diesem Stück einen Kompositionswettbewerb des Kopenhagener Musikvereins gewann. „Von Englands Küste ragte Ossians Riesenharfe herüber“, schrieb Robert Schumann und lobte, neben dem Fleiß, mit dem Gade die deutschen Meister studiert habe, den entschieden nordischen Charakter des Stücks.

Wie aus dem tiefen Grund der Vergangenheit steigen dunkle Streicherklänge empor, die den Hörer in die fremde Sagenwelt hinübertragen. Eine absinkende Melodie der Klarinetten intoniert eine Klage, ein Lied wie ein Gebet schließt sich an und verwandelt sich in einen Kampfgesang.

 

 

Fanfarenstöße rufen zur Schlacht, die Musik wird wild und stürmisch, unterbrochen von einem lieblichen Seitenthema, wie einer Vision von einem Ganz Anderen. Ein Durchführungsabschnitt setzt sich mit allen diesen Elementen auseinander. Dann schließt sich der Kreis: Im Epilog erscheinen die Elemente des Beginns in umgekehrter Reihenfolge: der Schlachtgesang, ganz zuletzt die dunklen Streicherklänge. Die Sagenwelt versinkt wieder in den Grund, aus dem sie emporgestiegen war.

Die sagenhaften Bezüge mögen auf Betrug beruhen, die Musik ist gelungen, die technische Meisterschaft und die Gestaltungskraft des 23jährigen Komponisten sind bewundernswert. „Die Zukunft ist dunkel, es geschieht das Meiste anders als wir dachten“, schrieb Schumann, „nur unsere Hoffnungen dürfen wir aussprechen, daß wir das Gediegenste, Schönste von diesem ausgezeichneten Talente erwarten.“ – Schumanns und Gades Hoffnungen erfüllten sich nicht wirklich. Das bekannteste Stück aus dem überreichen kompositorischen Schaffen Niels Wilhelm Gades – allein acht große Sinfonien – blieb sein Opus 1, die Nachklänge von Ossian.

 

Dieser Programmheftartikel entstand anlässlich zweier Konzerte der Hannoverschen Orchestervereinigung im März 2025. In einigen wenigen Einzelheiten greift er zurück auf  „Niels W. Gade und der ’nordische Ton'“, eine Dissertation von Michael Matter, erschienen 2015 bei Bärenreiter.