Haiku der Woche 10/11 – 8. und 16. März 2020
„Flying Pope – 161 Haiku“ von Ban’ya Natsuishi

 

Selten hat mich ein Band mit Haiku beim ersten Lesen so ratlos gemacht wie das Buch „Flying Pope“ des jetzt 65jährigen Ban’ya Natsuishi – 161 Haiku im japanischen Original und in englischen Übersetzungen von Jim Kacian. Ich habe nachgeprüft, ob ich da etwas missverstanden habe, ob es noch eine andere Bedeutung des Wortes „Pope“ gibt, die ich nicht kenne – aber nein, es handelt sich tatsächlich um ein Buch mit 161 japanischen Kurzgedichten über einen „fliegenden Papst“.

Natürlich meint Ban’ya Natsuishi keine konkrete Person (auch wenn man sich vorstellen könnte, dass der reiselustige Johannes Paul II. ein Ideengeber war). Der „fliegende Papst“ ist ein fiktives, imaginäres Wesen, dem die erstaunlichsten Dinge zustoßen, besser: ein Etwas, das im Mittelpunkt erstaunlicher surrealer Bilder steht. Dieses Etwas hat wechselnde Identitäten und muss dem Leser, der es greifen und dingfest machen will (indem er in jedem der 161 Haiku denselben „fliegenden Papst“ erwartet) entgleiten: Nach Ban’ya Natsuishi ist der „Flying Pope“ „a freely moving perspective on the post 9/11  21st century”. 

Beate Conrad, die mich auf dieses Buch aufmerksam machte, schreibt: „Ban’yas ‚Flying Pope‘ ist ein fiktiver Charakter, ein reales, absurdes, ironisches, fantastisch-surreales Wechselbalg. Das ist für uns Westler, die mit einem vermittelten und damit ganz anderen Haikuverständnis ausgestattet sind, etwas schwerer zu verstehen.  Wir sind es gewohnt, verkürzt ausgedrückt, den Augenblick, den Moment festzuhalten.  Vielleicht denken wir noch an die Verwurzelung des Haiku im Zen mit.  Derartig ausschließlich verhielt es sich allerdings nicht, auch nicht mit den Haiku der großen Meister.  Sie kannten und nutzten das Stilmittel des vom Autor losgelösten Perspektivwechsels, das Ban’ya durchgehend in seiner ‚Flying Pope‘-Haiku-Serie einsetzt.  Dieses literarische Stilmittel ist nicht nur Stilmittel, sondern gehört ganz natürlich zur fernöstlichen Art der Welterfahrung und -anschauung.  Deshalb ist es wichtig, dieses Mittel des Persona- und Perspektivwechsels, das aber auch die westliche Literatur kennt, genau zu betrachten.  Damit der Wechsel gelingt, muß dieser fiktive Charakter (oder Ausdruck) in einer (inter)kulturell festen Größe mit bekannten Konnotationen, wie eben der Papst, verankert sein, und um zu einer erweiterungs-, wandlungs- und verfremdungsfähigen Figurschablone und damit zur Imaginationsfläche zu werden.  D. h., für den konkreten Fall, daß ‚the flying pope‘ immer vom Kontext des einzelnen Haiku bestimmt ist.  Ein erstes Bild zeigt sich nicht sogleich.  Oder wenn, dann ein verwirrendes, das die Mitarbeit des Lesers stark herausfordert.  Er muß nämlich das Bekannte mit dem Unbekannten, dem andeutungsweise Implizierten ver- und abgleichen, es neu zusammensetzen, mitunter erst mit Hilfe seiner Einfühlungs- und Imaginationskraft aufgrund der wenigen Hinweise neu konstruieren (die Bashôsche Duftverbindung).  Das jedoch nicht beliebig, sondern an den genau entschlüsselten Vorgaben entlang.“  

Gleichwohl: Ich habe eine gewisse Zeit gebraucht, um mich diesen Gedichten eines übrigens renommierten und mehrfach preisgekrönten Autors zu nähern. Vor meiner Auswahl der „Sieben schönsten Flying Pope-Haiku“ (und einer eigenen Zugabe) einige wenige kritische Bemerkungen. – Das eine oder andere „Flying Pope“-Haiku kommt mir recht trivial vor:
Possibly
the Flying Pope
is a balloon

Das gilt vor allem dann, wenn der Text nach einer allzu naheliegenden Pointe schielt:
After winning the Nobel Prize
the Flying Pope
lost

Andere scheinen mir der Gefahr zu erliegen, das Surreale ins Beliebige und damit Unverständliche zu treiben. Ein Haiku wie das folgende bedeutet mir jedenfalls nichts:
Enclosing the sun
in a rock salt lamp
the 
Pope flying

Unter den 161 Haiku dieses Buches gibt es – mittlerweile – einige, die das tun, was gelungene Haiku tun und tun müssen: Sie rühren mich an, sie lösen etwas in mir aus, sie laden mich ein weiterzudenken.

 

Falling from a waterfall
in 
the sky
the 
Pope begins to fly

 

The Flying Pope
l
eft behind
by 
lemmings

 

The Flying Pope
t
hrowing gold coins
down 
to a wolf

 

The Flying Pope
t
akes a transit
on 
the whale’s back

 

The Pope flies
in 
the sky of the other world
e
verybody forgets

 

Passing over
c
ountless broken bridges
the 
Pope flies

 

The Flying Pope
f
or all
the 
withered roses

 

Nun lasse ich selbst den Papst noch einmal fliegen, aus aktuellem bitteren Anlass:

Geschäftig fliegt er
hin und 
her, der Papst, die
K
rone auf dem Haupt.

Wolfgang Volpers

 

Beate Conrad hat hier weitergedichtet:

Fliegend der Papst in
ungeahnten Freiräumen
der Quarantäne

Beate Conrad

 

Das Buch „Flying Pope – 161 Haiku“ von Ban’ya Natsuishi mit den Übersetzungen von Jim Kacian ist 2008 in Tokio bei KOOROSHA erschienen. Einige wenige Anregungen (nämlich das Zitat von Ban’ya Natsuishi und die Kritik an dem „Enclosing the sun“-Haiku) gab mir der Aufsatz „Ground Control to the Flying Pope“ von Paul Miller, 2010 im Online-Magazin „Modern Haiku“ erschienen. Meine Auswahl von sieben „Flying Pope“-Gedichten beginnt mit dem ersten Haiku des Bandes und endet mit dem letzten.

 

In einer Reaktion auf diesen Beitrag schreibt Eckhart Kuper: „Die englische Übersetzung scheint mir nur eine Grobübersetzung zu sein, ohne Anspruch auf eigenen ästhetischen Wert. Das ist vielleicht die Crux bei manchen Haiku-Übersetzungen.“ – Wiederum Beate Conrad entgegnet: „Ban’ya selbst beherrscht das Französische und das Englische fließend in Wort und Schrift.  Dennoch braucht es für die Abrundung der Übersetzungen einen Fachmenschen, dessen Muttersprache Englisch ist und der sowohl im Japanischen wie auch im Literarischen und im Haiku ausreichend bewandert ist.  Jim Kacian lebte in Japan, kennt die Sprache und vereinigt alle anderen Merkmale mit großer Erfahrung.  Sprich, die Übersetzungen sind verläßlich, soweit das der Sache gemäß überhaupt möglich ist.“

 

Robert Nett, dem die Haiku von Ban’ya Natsuishi zu „sophisticated“ sind, hat sich zu einem eigenen Haiku inspirieren lassen, mit einem päpstlichen Papst am gewohnten Ort:

Urbi et Orbi
Der große Platz völlig leer
Noch lächelt der Papst

Robert Nett