Kleine didaktische Ergänzung 2 – „Nacht“ aus „Pierrot lunaire“

Der im folgenden skizzierte Unterrichtsgang (für einen Musik-Leistungskurs der gymnasialen Oberstufe) hat sich so oder in kleineren Abwandlungen sehr bewährt – und der Komposition Schönbergs einige Freunde gewonnen.

Pierrot lunaire Nacht Text

Sowohl der Text mit dem großartigen Bild von den Riesenfaltern, die den Glanz der Sonne töten, als auch die Musik sind eindrucksvoll genug und im Grunde nicht schwer zugänglich. Für viele, auch für jugendliche Hörer ist allerdings die ungewöhnliche Behandlung der Stimme ein Riegel, der ihnen diesen Zugang verschließt. Deswegen empfiehlt es sich, zunächst eine Deklamation des Textes, ohne Kenntnis der Schönberg-Vertonung, zu erarbeiten, und dabei auf ein intuitives Textverständnis (ohne eine von der Einstudierung der Deklamation losgelöste Interpretation) zu vertrauen. Anregungen geben Schönbergs Hinweise für die Ausführenden:

Die in der Sprechstimme durch Noten angegebene Melodie ist (bis auf einzelne besonders bezeichnete Ausnahmen) nicht zum Singen bestimmt. Der Ausführende hat die Aufgabe, sie unter guter Berücksichtigung der vorgezeichneten Tonhöhen in eine Sprechmelodie umzuwandeln. Dies geschieht, indem er I. den Rhythmus haarscharf so einhält, als ob er sänge, d. h. mit nicht mehr Freiheit, als er sich bei einer Gesangsmelodie gestatten dürfte; II. sich des Unterschiedes zwischen Gesangston und Sprechton genau bewußt wird: der Gesangston hält die Tonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Fallen oder Steigen sofort wieder. Der Ausführende muß sich aber sehr davor hüten, in eine singende Sprechweise zu verfallen. Das ist absolut nicht gemeint.  Es wird zwar keineswegs ein realistisch-natürliches Sprechen angestrebt. Im Gegenteil, der Unterschied zwischen gewöhnlichem und einem Sprechen, das in einer musikalischen Form mitwirkt, soll deutlich werden. Aber es darf auch nie an Gesang erinnern.

Auch eine rhythmische Fixierung der Textdeklamation ist möglich und sinnvoll, etwa:

Nach meiner Erfahrung räumen die erarbeiteten Lösungen (eigentlich: räumt der Prozess der Erarbeitung) die Vorbehalte gegen diese Art, mit der Stimme umzugehen, beiseite und schaffen gewissermaßen noch vor dem ersten Hören eine Vertrautheit mit der Musik (und nehmen sehr oft in Einzelheiten Schönbergs Lösung vorweg). Aufgrund der nun vorhandenen Textkenntnis können sich zwanglos Überlegungen anschließen, wie die Musik den Text umsetzt, von formalen Gesichtspunkten (die Musik folgt ja recht gut der Textvorlage) bis zu Einzelheiten des Wort-Ton-Verhältnisses, z.B.:

  • Bevorzugung des tiefen Klangraums, als Reflex auf die Schwärze der Nacht, den tiefliegenden Horizont und das Niederdrücken der Menschenherzen (keines der Stücke des „Pierrot“-Zyklus hat die exakt gleiche Instrumentation, für dieses Stück hat der Komponist die tiefsten Instrumente des Ensembles ausgewählt und führt sie auch, vgl. Takt 25, an ihre unteren Grenzen)
  • Pause nach „verschwiegen“, in der Tradition oder jedenfalls nach Art der barocken musikalisch-rhetorischen Figuren (Aposiopesis)
  • Tonmalereien bei „steigt ein Duft“ (Takt 12) und bei „senken sich mit schweren Schwingen“ (ab Takt 19)

Jetzt erst sollte sich die Untersuchung der strukturellen Seite der Komposition, i.e. der Analyse des Dreiton-Motivs und seiner Bedeutung, zuwenden. Diese hat durchaus einen gewissen Spaßfaktor, weil sie nicht schwer zu leisten ist und sehr schnell zu überraschenden und überzeugenden Ergebnissen führt. Eine interessante Ergänzung der im Leverkühn-Vortrag gegebenen Analyse ist die Aufschlüsselung der Takte 24/25, in der Schönberg das zentrale Dreiton-Motiv mit den absinkenden chromatischen Linien aus Takt 4 kombiniert:

Eine beeindruckende Zugabe ist die auf YouTube einzusehende Verfilmung des gesamten Zyklus mit der Sopranistin Christine Schäfer, ein poppiger Videoclip, der sehr beeindruckend das Alptraumhafte des Textes in heutigen Schülern und Schülerinnen vertraute Bilder umsetzt.