Klingende Buchstaben, tönende Zahlen
Wie funktionieren Lautentabulaturen?

Nicht die geringste Herausforderung für einen späten Lautenisten ist das Erlernen der Notation, denn die Lautenmusik ist nicht auf die vertraute Weise, sondern als Tabulatur, als Griffschrift, notiert. Wie die allermeisten Lautenspieler beschränke ich mich auf die französische und die italienische Lautentabulatur und überlasse die kurios-umständliche deutsche Tabulatur und die nur von einem einzigen Komponisten, Luis de Milan, benutzte spanische Tabulatur den Kennern und Spezialisten. 

Eine Laute hat standardmäßig sechs Saitenpaare, die „Chöre“, die bei vielen Instrumenten durch Bass-Saiten erweitert werden (bis hin zu 13 Chören), wobei der Chor mit dem höchsten Ton in der Regel nur aus einer einzelnen Saite, der Chanterelle,  besteht. Meine Laute ist achtchörig, zu den sechs Basis-Chören treten zwei tiefere hinzu; als leere Saiten klingen folgende Töne (von der höchsten nach unten):
g‘
d’
a
f
c
G
F
D

Sowohl die französische als auch die italienische Tabulatur verwenden sechs horizontale Linien, um die sechs Chöre der Laute darzustellen. In der französischen Tabulatur entspricht die oberste Linie dem höchsten Chor. Kleinbuchstaben über oder auf den Linien geben die zu greifenden Bünde an, a entspricht der leeren Saite, b, c, d usw. dem ersten, zweiten, dritten usw. Bund. Die Tabulatur gibt nicht an, mit welchem Finger gegriffen werden soll. Unterhalb der untersten Linie wird der siebte Chor notiert, der achte, tiefste Chor ebenda, aber mit einem Ober- oder Unterstrich versehen. 

Hier eine moderne Abschrift eines kleinen und populär gewordenen Stückes von Francis Cutting, Packington’s Pound (für sechschörige Laute). Wie es üblich war und ist, wirkt das c für den zweiten Bund etwas amputiert und sieht eher wie ein r aus, das d mutet etwas griechisch an. (In meiner Aufnahme werden die Takte 9 bis 20 wiederholt.)

 

 

Der Rhythmus wird in uns vertrauten Zeichen über dem Griffbild notiert, manchmal, wie hier in Packington’s Pound, für jede Note, manchmal nur beim Wechsel des Notenwertes (d.h. der notierte Notenwert gilt bis zum nächsten neuen Notenwert). Der moderne Herausgeber gibt für Packington’s Pound einen 6/8-Takt an; heute würden wir diese Taktart mit Achteln und Sechzehnteln statt mit Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln notieren.

Damit wird allerdings nur ein Rhythmus angegeben, gleichzeitig einsetzende, aber unterschiedlich lange Noten sind mit diesem System nicht darstellbar – das ist, weil der Lautenton rasch verklingt, in aller Regel kein Problem. Der Spieler sollte sich allerdings über die polyphone Struktur der Musik genau im Klaren sein und wissen, welche Noten er länger aushalten und mit dem nächsten Ton verbinden muss. Hier der Beginn einer Fancy von John Dowland, zunächst in Tabulatur:

Wenn man diese Tabulatur mit dem angegebenen Rhythmus in unsere Notenschrift überträgt, wird die Musik unverständlich (die ersten Bassnoten habe ich aus Gründen der Leserlichkeit eine Oktave höher gelegt, auf Zählzeit 3 des ersten Taktes habe ich, einer anderen Quelle folgend, zwei Töne ergänzt):

Tatsächlich liegt hier eine durchgängig dreistimmige Anlage vor, mit ganz selbstständig (teilweise imitatorisch) geführten Einzelstimmen:

 

 

Was in modernen Tabulatur-Editionen wie der von Packington’s Pound (oben) aufgeräumt und übersichtlich aussieht, wirkt in den Original-Manuskripten verwirrend und chaotisch. Hier eine Seite aus dem in den Jahren um 1620 aufgeschriebenen Lautenbuch der Margaret Board. Im fünften System beginnt das Stück Market is done: Das Pluszeichen gibt eine Verzierung an, die Punkte unter den Buchstaben die Finger der Zupfhand, ein Punkt verlangt den Zeigefinger, zwei den Mittelfinger, drei den Ringfinger, der kleine Finger der Zupfhand kommt nicht zum Einsatz, sondern stützt die Hand auf dem Korpus ab. (Auf Market is done folgt übrigens, ganz unten, das Stück I cannot keep my wife at home…)

 

 

Die italienische Tabulatur funktioniert ähnlich, stellt aber die Sache auf den Kopf (die unterste Linie entspricht der höchsten Saite) und verwendet Zahlen statt Buchstaben (0 ist die leere Saite, 1 der erste Bund…). Die Anordnung der Saiten in der Notation mag zunächst seltsam wirken, sie leuchtet aber ein, wenn man bedenkt, dass diese Anordnung der Blickrichtung des Spielers entspricht.

 

 

Die Tabulatur von Packington’s Pound findet sich auf Sarge Gerbodes grandioser Webpräsenz mit „Accessible Lute Music“; das Beispiel für italienische Lautentabulatur fand ich auf https://musikwissenschaften.de. – Meine eigenen Versuche als spät zum Instrument gekommener, aber begeisterter Lautenist finden sich hier .