Sieben Schachpartien für die einsame Insel

Schach war eine große Leidenschaft meiner Jugend, doch Caissa (würde ein Schachjournalist vielleicht schreiben) erwiderte meine Liebe nicht: Den Jugend-Stadtmeister-Titel meiner Heimatstadt konnte ich nur deshalb erringen, weil der einzige ernsthafte Konkurrent bei den Erwachsenen mitspielte. Mittlerweile kann ich den Schachcomputer nur noch auf einer Spielstufe schlagen, in der das Programm ihn zwingt, nach einigen vernünftigen Zügen einen so idiotischen zu machen, dass auch Anfänger Erfolgserlebnisse haben.

Also spiele ich die schönsten Partien der Schachgeschichte nach. Schönheit ist aber auch auf den 64 Feldern schwer zu definieren. Christian Hesse weist – im Kapitel „Relative Schönheitstheorie“ seines wunderbaren Buches „Expeditionen in die Schachwelt“ – auf eine wesentliche Voraussetzung hin: „Schönheit im Schach hat immer auch etwas mit Qualität zu tun. Ein schlechter Zug ist niemals schön.“ Jonathan Levitt und David Friedgood machen es komplizierter und entwerfen in ihrem Buch „Secrets of Spectacular Chess“ eine Theorie der Ästhetik des Schachs, die sie auf vier Elemente gründen: Paradox, Tiefe, Geometrie und Spielfluss. Paradox sind die unerwarteten und überraschenden Züge, solche, die vertraute Prinzipien der Zugfindung („Springer am Rand ist stets eine Schand“ hieß es etwa in meiner Jugend) verletzen, und vor allem die materiellen Opfer. Tief sind sind die Kombinationen, deren Sinn sich nicht nach zwei oder drei Zügen enthüllt, die vielmehr ihre lang voraus berechnete Kraft erst nach einem längeren Abspiel offenbaren. Geometrie kann sich als graphischer Effekt wie in diesem Beispiel (einer Studie von Jan van Reek)

zeigen oder als verborgenere optische Logik. Spielfluss „bezieht sich auf die Kunst, in einer Reihe von Zügen (je mehr, je besser) die Spannung aufrecht zu erhalten, ohne dass lange, komplizierte Nebenvarianten störend dazwischen kommen“. – Diese vier Elemente scheinen mir im Kunstschach, also in Problemen oder Studien, leichter zu verwirklichen als im Kampfschach. Die Riesenzüge der Dame in der folgenden Schachminiatur (von Erich Ernst, 1998, Matt in vier Zügen) sind in einer Schachpartie kaum denkbar:

 

Die folgenden sieben Partien, die ich auf meine einsame Insel mitnehme, waren mir lange bekannt, bevor ich die „Secrets of Spectacular Chess“ kennenlernte. Tatsächlich können die vier Elemente (in unterschiedlichen Gewichtsanteilen) ein klein wenig helfen, den Zauber, der von ihnen ausgeht, zu beschreiben. Allerdings fehlt in diesen Elementen – Teile eines Versuchs, das Inkommensurable kommensurabel zu machen – ein Hinweis auf Individualität und Originalität, die die Schönheit doch wohl begleiten müssen. Wie beruhigend ist es doch, dass nicht alles erklärt werden kann. – Weil meine Liebe zum Schach eine Jugendliebe ist, beschränke ich mich auf Partien, die ich schon als Jugendlicher kannte und verehrte. Einem ernsthaften Schachfan bietet meine Liste überhaupt nichts Neues oder Ungewöhnliches.

Bird – Morphy  (London 1858)
Lasker – Thomas  (London 1912)
Adams – Torre  (New Orleans 1920)
Sämisch – Nimzowitsch  (Kopenhagen 1923)
Lasker – Torre  (Moskau 1925)
Siff – Kashdan  (New York 1933)
Donald Byrne – Fischer  (New York 1956)

 

Bird – Morphy
In dieser Situation

schlägt Morphy ganz unerwartet mit dem Turm den Bauern auf f2 – ein verblüffendes Opfer, das seinen Sinn darin findet, die dritte Reihe für die Dame freizuräumen, die nun ungehindert von einem Ende des Brettes zum anderen rauschen kann, um dort nach einigem Hin und Her den gegnerischen König matt zu setzen.
Hier der Link zur vollständigen Partie (bei chessgames).

 

Lasker – Thomas
Der Spieler der Weißen ist nicht etwa Emanuel Lasker, der 27 Jahre lang Schachweltmeister war und viele Partien gespielt hat, die auch in dieser Liste einen Platz hätten finden können. Aber auch Eduard (später Edward) Lasker ist eine bewundernswert schöne Partie geglückt. An dieser Stelle 

opfert Lasker die Dame auf h7, nimmt dann den schwarzen König an den Haken und zieht ihn einmal über das ganze Brett, um ihn mit einem schönen Abzugsschach (dem zweiten der Partie) auf der eigenen Grundreihe matt zu setzen.
Hier der Link zur vollständigen Partie (bei Wikipedia).

 

Adams -Torre
Das Grundlinienmatt gehört zur Grundausrüstung des Schachspielers. Wie Weiß aber in dieser Partie dieses Modell variiert und das fehlende Schlupfloch des schwarzen Königs ausnutzt, das ist frappierend und genial. In dieser Stellung

zieht Weiß die Dame nach g4, wo sie geschlagen werden kann, aber nicht darf, weil dann die weißen Türme auf die schwarze Grundlinie fahren und Matt setzen. Immer wieder bietet sich nun die weiße Dame selbst an, bis die schwarze Deckung endgültig zusammenbricht.
Hier der Link zur vollständigen Partie (bei Wikipedia).

 

Sämisch -Nimzowitsch
Alles beginnt irgendwie ganz normal. Irgendwie wird Weiß plötzlich gezwungen, Züge zurück statt nach vorn zu machen. Und irgendwie schafft es Schwarz, Weiß die Luft zum Atmen zu nehmen, bis es in dieser Stellung keinen Zug mehr gibt, der nicht verliert:

Sämisch, so lese ich, habe über diese Stellung eine gute Stunde nachgedacht – und dann aufgegeben. Eine Partie vielleicht nicht so spektakulär wie die anderen hier aufgelisteten, aber doch Zauberei, irgendwie.
Hier der Link zur vollständigen Partie (bei chessgames).

 

Lasker – Torre
Der weiße Läufer ist angegriffen; zieht er weg, so kann Schwarz die Dame nehmen:

Und genauso kommt es verblüffenderweise auch: Weiß zieht Lf6 und schlägt nach Dh5 mit dem Turm auf g7. Das ist nun aber die Eröffnung der „Zwickmühle“, die diese Partie und Señor Torre berühmt gemacht hat. Durch die wiederholte Folge von Schach (auf g7) und Abzugsschach holt sich sich Weiß alle Opfer zurück und noch ein paar Bauern dazu.
Hier der Link zur vollständigen Partie (bei chessgames).

 

Siff – Kashdan
Erstaunlich ist schon einmal die Opfermenge: ein Läufer, zwei Türme und zuletzt die Dame. Erstaunlich und beeindruckend ist dann aber vor allem das perfekte Zweispringermatt in der Ecke des Brettes, während die weißen Schwerfiguren ohnmächtig und von weither zuschauen:

Hier der Link zur vollständigen Partie (bei Wikipedia).

 

Donald Byrne – Fischer
Das 
„Spiel des Jahrhunderts“, das Bobby Fischer nach sinnverwirrenden Kombinationen mit einem „reinen“ Matt abschließt:

Vielleicht gehört in diesem Fall das Wissen um den biographischen Hintergrund irgendwie zur Schönheitsempfindung dazu: 1956 war Donald Byrne einer der besten US-amerikanischen Schachspieler, hatte die US-Open gewonnen und trug den Titel Internationaler Meister. Bobby Fischer war noch nicht Bobby Fischer; er hatte zwar gerade die US Junior Championship gewonnen, war aber trotzdem ein Nobody – und gerade 13 Jahre alt.
Hier der Link zur vollständigen Partie (in der englischen Wikipedia).

 

 

Die von mir für diesen Beitrag benutzte Literatur, außer Wikipedia und chessgames.com:
Martin Beheim-Schwarzbach, Knaurs Schachbuch (die schöne alte Version von 1953)
Valeri Beim, Paul Morphy – A Modern Perspective, Russell Enterprises 2005
Christian Hesse, Expeditionen in die Schachwelt, Chessgate 2006
Karl – das kulturelle Schachmagazin, Ausgabe 1/2003, Thema „Schönheit“ (darin ein „abstract“ des Buches „Secrets of Spectacular Chess“ von Jonathan Levitt und David Friedgood)
Die Diagramme habe ich mit Hilfe von netschach.de erstellt; das Schachproblem von Erich Ernst fand ich auf schachbund.de.