Siebenmal „Hundert Jahre Einsamkeit“ für die Insel

Oktober 2019 – eben habe ich „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel García Márquez zum dritten Mal zu Ende gelesen, wieder mit der wachsenden Angst davor, dass das Buch bald enden und mich aus seiner Zauberwelt entlassen würde.

Bislang kenne ich den Roman nur in der Übersetzung von Curt Meyer-Clason, der den berühmten ersten Satz so fasst: „Viele Jahre später sollte der Oberst Aureliano Buendía sich vor dem Erschießungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennenzulernen.“ Die hochgelobte Übersetzung von Dagmar Ploetz ändert nur wenig, scheint sich aber etwas stärker am Original zu orientieren: „Viele Jahre später, vor dem Erschiessungskommando, sollte Oberst Aureliano Buendía sich an jenen fernen Nachmittag erinnern, als sein Vater ihn mitnahm, das Eis kennenzulernen.“

Ich freue mich auf das vierte Mal, dann vielleicht (obwohl ich nie etwas vermisst habe) in der Neuübersetzung. Die Lektüre ist ein großer Rausch – hier einige besondere Glanzstücke.

 

1. Über seine Geburtsstadt schreibt Márquez in seiner Autobiographie: „Aracataca war ein Ort, in dem es sich gut leben ließ, wo jeder jeden kannte, am Ufer eines Flusses mit kristallklarem Wasser, das dahinschoss durch ein Bett mit polierten Steinen, weiß und riesig wie prähistorische Eier.“ (Gabriel García Márquez: Leben, um davon zu erzählen) Damit zitiert er absichtsvoll sich selbst, denn seine Geburtsstadt Aracataca war ein Vorbild für Macondo, das Romandorf, das in hundert Jahren Einsamkeit entsteht, aufblüht und wieder vergeht.
Macondo war damals ein Dorf von zwanzig Häusern aus Lehm und Bambus am Ufer eines Flusses mit kristallklarem Wasser, das dahineilte durch ein Bett aus geschliffenen Steinen, weiß und riesig wie prähistorische Eier. (S. 9) 

2. José Arcadio Buendía, der Gründer Macondos, hat von dem Zigeuner Melchíades verschiedene nautische Geräte erhalten.
Als 
er mit seinen Geräten leidlich umzugehen verstand, kannte er sich so weit im Weltall aus, daß er imstande war, unbekannte Meere zu durchschiffen, unbewohnte Gebiete zu besuchen und Beziehungen zu herrlichen Wesen anzuknüpfen, ohne dafür sein Arbeitszimmer verlassen zu müssen. (S. 12)

3. Wie José Arcadio, der Sohn des Stadtgründers José Arcadio Buendía, zu Tode kommt – erschossen, ohne dass sein Körper eine Wunde aufweist und man eine Waffe findet -, ist „das vielleicht einzige Geheimnis, das in Macondo nie aufgeklärt wurde“.
Eine Blutspur drang unter Tür hervor, durchquerte das Wohnzimmer, rann auf die Straße hinaus, wählte den kürzesten Weg zwischen den ungleichen Gehsteigen, floß kleine Treppen hinab und erklomm Steindämme, fuhr die ganze Türkenstraße entlang, bog rechts um eine erste, dann links um eine zweite Ecke, machte vor dem Haus der Buendías rechtsum, rieselte unter der verschlossenen Tür hindurch, durchglitt den Besuchssalon längs der Wände, um den Teppich nicht zu beflecken, lief durch das angrenzende Wohnzimmer, beschrieb einen großen Bogen um den Esstisch, rückte in der Begonienveranda vor und gelangte ungesehen unter den Stuhl Amarantas, die gerade Aureliano José Rechenunterricht gab, dann drängte sie sich in die Speisekammer und erschien in der Küche, wo Ursula gerade sechsunddreißig Eier für das Brot aufschlug. „Ave Maria Purissima!“ schrie Ursula. (S. 158)

4. Oberst Aureliano Buendía, der Bruder José Arcadios, hat zweiunddreißig bewaffnete Aufstände verloren, hat siebzehn Söhne von siebzehn verschiedenen Frauen, ist vierzehn Attentaten entkommen, dreiundsiebzig Hinterhalten und einem Erschießungskommando. Trotz alledem ist er der vielleicht Einsamste in diesen hundert Jahren und erstarrt in seinen letzten Jahren bei lebendigem Leib. Als er gefragt wird, wie er sich fühlt, antwortet er: „Es geht. Ich warte auf meinen Leichenzug.“
Wortkarg, still, gleichgültig gegen den neuen, das Haus durchflutenden Lebenshauch, begriff Oberst Aureliano Buendía nur, dass das Geheimnis eines guten Alters nichts ist als ein ehrenhafter Pakt mit der Einsamkeit. (S. 235)

5. Amaranta, die Schwester José Arcadios und des Obersten, hat trotz ihrer großen Liebesfähigkeit und Liebedürftigkeit nie geheiratet. Nur die greise und blinde Ursula, die Frau des Stadtgründers, versteht warum.
Sie erkannte Amaranta, deren Herzenswärme sie entsetzte, deren besessene Verbitterung sie verbitterte, letzten Endes als die zartfühlendste Frau, die je gelebt hatte, und sie begriff mit mitleidiger Klarsicht, daß weder die ungerechten Quälereien, die Pietro Cespi durch sie erduldet hatte, von Rachsucht diktiert waren, wie alle Welt glaubte, noch das langsame Martyrium, zu dem sie das Leben des Obersten Gerinaldo Márquez verurteilt hatte, von ihrer bösen Gallenbitternis bestimmt worden war, wie alle Welt glaubte, sondern daß beide Handlungen ein Kampf auf Leben und Tod zwischen maßloser Liebe und unbezwinglicher Feigheit gewesen waren, und daß schließlich Amarantas stetige irrationale Angst über ihr eigenes, gemartertes Herz triumphiert hatte. (S. 289)

6. Die Arbeiter, die gegen die unerträglichen Arbeitsbedingungen in den Plantagen der Bananengesellschaft protestieren, rufen den Massenstreik aus. Dreitausend Personen, darunter auch Frauen und Kinder, versammeln sich auf dem Bahnhofsplatz – und merken zu spät, dass Soldaten rings um den Platz in den Seitenstraßen Maschinengewehre aufgebaut haben. Das Feuer wird eröffnet.
Statt sich auf die Erde zu werfen, drängten die Überlebenden auf den kleinen Platz zurück, und nun warf die Panik sie mit einem Drachenschweifschlag in Form einer kompakten Welle gegen die andere Welle, die in entgegengesetzter Richtung floh, angetrieben von dem Drachenschweifschlag der gegenüberliegenden Straße, wo die Maschinengewehre gleichfalls erbarmungslos feuerten. So waren sie eingepfercht und kreisten in einem riesenhaften Wirbel, der allmählich auf seinen Schwerpunkt schrumpfte, weil seine Ränder von den unersättlichen, methodischen Scheren der Maschinengewehre rundherum systematisch geschält wurden wie eine Zwiebel. (S. 352)

7. Als Macondos Ende gekommen ist, versteigert der katalanische Weise seine Buchhandlung, um, „bezwungen von der Sehnsucht nach einem beharrlichen Frühling“, in sein Mittelmeersgeburtsdorf zurückzukehren. Er nimmt auch die von ihm selbst verfassten Schriften mit, weigert sich aber hartnäckig, als die Eisenbahnbeamten die drei Truhen als Frachtgut schicken wollen.
„Die Welt wird an dem Tag im Arsch sein“, sagte er damals, „wenn die Menschheit erster Klasse reist und die Literatur im Gepäckwagen.“ (S. 458)

(Die Seitenangaben beziehen  sich auf die Taschenbuchausgabe von 1970.)