Sieben lange Zahlen in einer „kurzen Geschichte der Menschheit“

Die Geringschätzung des Glaubens und der Religionen, gerade und insbesondere der großen monotheistischen, zieht sich mit vielen Wiederholungen und Variationen durch Yuval Noah Hararis Bestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“: „Nur der Mensch kann über etwas sprechen, das gar nicht existiert, und noch vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge glauben. Einen Affen würden Sie jedenfalls nie dazu bringen, Ihnen eine Banane abzugeben, indem Sie ihm einen Affenhimmel ausmalen und grenzenlose Bananenschätze nach dem Tod zu versprechen.“ 

Seine Verachtung der Religionen, über die er sich hier mit Hilfe von Lewis Caroll lustig macht, führt Harari (der durchaus differenziert argumentieren kann) immer wieder einmal zu groben und reißerisch wirkenden Formulierungen: „Wie bringt man Menschen dazu, an erfundene Ordnungen wie das Christentum, die Demokratie oder den Kapitalismus zu glauben?“ Andererseits gelingt es ihm immer wieder, die Dinge brillant auf den Punkt zu bringen, etwa wenn er die Christenverfolgungen im späten Römischen Reich den Leiden gegenüberstellt, die Christen anderen Christen zugefügt haben: „In den kommenden anderthalb Jahrtausenden schlachteten sich die Christen gegenseitig zu Millionen ab, weil sie die Lehre der Nächstenliebe in einigen Detailfragen unterschiedlich interpretierten.“

Nicht nur Glaubensinhalte sind bloße Phantome, ein leeres Hirngespinst ist überhaupt alles, das es in der physischen Realität nicht gibt: „Niemand log, als die Vereinten Nationen im Jahre 2011 Libyen ermahnten, die Menschenrechte einzuhalten, obwohl die Vereinten Nationen, Libyen und die Menschenrechte nichts anderes sind als Produkte unseres Erfindungsreichtums.“ 

Geld, Gesetze, Nationen, all das gibt es ebenso wenig wie Götter, all das existiert nur in unserer kollektiven Vorstellungswelt, all das sind Geschichten und Mythen. Die Wirkungsmacht dieser „erfundenen Wirklichkeiten“ leugnet freilich auch Harari nicht – im Gegenteil, Geld, Gesetze, Nationen, Götter machen das Zusammenleben der Menschen erst möglich oder haben das jedenfalls über lange Zeiträume geleistet.

Es würde mich überfordern und meine Möglichkeiten übersteigen, mit Yuval Noah Harari zu diskutieren, ob nicht eine Institution wie die Vereinten Nationen doch ein Bestandteil unserer Realität ist, ob nicht auch Ideen Wirklichkeit gewinnen können. Ich beschränke mich lieber darauf – den Prinzipien meiner Reihe „Siebenmal…“ folgend – beeindruckende und erstaunliche Einzelheiten aus diesem Buch herauszulösen. 

Es ist natürlich absolut dilettantisch, banausenhaft usw. usw., die komplexe Argumentation der „kurzen Geschichte der Menschheit“ auf einige imposante Details zu reduzieren. Vielleicht aber ist die folgende Zusammenstellung verblüffender Zahlenzusammenhänge, auf die ich mich beschränke, für den einen oder die andere genauso amüsant zu lesen wie Hararis großartiges Buch für mich.

 

1. Vor der Erfindung der Landwirtschaft lebten die allermeisten Menschen in kleinen Gruppen von einigen Dutzend bis wenigen Hundert Personen, und diesen Gruppen gehörten ausschließlich Menschen an. Letzteres mag offensichtlich klingen, doch das ist es keineswegs. Die meisten Angehörigen von Agrar- und Industriegesellschaften sind nämlich Haustiere. Sie haben zwar nicht dieselben Rechte, doch sie gehören zweifelsfrei zu diesen Gesellschaften. Die Bevölkerung von Neuseeland besteht beispielsweise aus 4,5 Millionen Sapiens und 50 Millionen Schafen. (S. 64)

2. Heute werden weltweit nur 1,5 Prozent aller Menschen von ihren Mitmenschen ins Jenseits befördert, Kriege und Verbrechen zusammengenommen. Im gesamten 20. Jahrhundert starben nur 5 Prozent aller Menschen eines gewaltsamen Todes – und das trotz zweier Weltkriege, eines chinesischen Bürgerkriegs, des Holocausts, des Völkermords an  den Armeniern und Dutzender anderer Kriege und Völkermorde von Kambodscha bis zum Kongo, von Vietnam bis Ruanda. (S. 82)

3. Der Übergang zur Landwirtschaft begann vor gut 11.500 Jahren in den Hügeln der Südosttürkei, des Westiran und der Levante. Zuerst wurden Weizen und Ziegen domestiziert, Erbsen und Linsen folgten vor rund 10.000 Jahren, Olivenbäume vor rund 7.000, Pferde vor 6.000 und Wein vor 5.500 Jahren. Trotz all unserer wunderbaren modernen Erfindungen beziehen wir bis heute mehr als 90 Prozent unseres Kalorienbedarf aus einer Handvoll von Pflanzenarten, die unsere Vorfahren zwischen 9.500 und 3.500 vor unserer Zeitrechnung domestiziert haben – Weizen, Reis, Mais, Kartoffeln, Hirse und Gerste. Wir denken und fühlen bis heute zwar wie die Jäger und Sammler, doch wir ernähren uns wie die ersten Bauern. (S. 102)

4. [über die Entwicklung der Geschichte in Richtung Einheit] Wie viele menschliche Welten gab es auf der Erde? Vor 12.000 Jahren gab es vermutlich Zehntausende. Bis zum Jahr 2.000 vor unserer Zeitrechnung war diese Zahl auf einige Hundert, höchstens wenige Tausend geschrumpft. Bis zum Jahr 1450 war diese Zahl noch dramatischer geschrumpft. Damals, kurz vor Beginn der europäischen Erkundungsfahrten, gab es auf der Erde zwar noch einige Zwergwelten wie die von Tasmanien. Doch knapp 90 Prozent aller Menschen lebten in einer einzigen Mega-Welt: der afro-eurasischen Welt. Die drei Kontinente Europa, Asien und Afrika (einschließlich Schwarzafrika) waren durch kulturelle, politische und wirtschaftliche Bande miteinander verbunden. Der gemeinsame kulturelle Topf wurde beispielsweise durch religiöse Pilgerfahrten immer wieder aufgerührt. Ein muslimischer Pilger, der im Tal des Niger in Westafrika zu einer Hadsch aufbrach, konnte in Mekka Gläubigen aus Ostafrika, dem Balkan, Zentralasien, Indonesien und sogar aus China begegnen. (S. 206)

5. Im Jahr 2006 betrug die Gesamtsumme des Geldes in aller Welt rund 473 Billionen Dollar, doch es waren nur Münzen und Banknoten im Wert von weniger als 47 Billionen im Umlauf. Über 90 Prozent des gesamten Geldes  – mehr als 400 Billionen Dollar auf unseren Konten – existieren nur in Computern. Solange wir bereit sind, Güter und Dienstleistungen gegen elektronische Daten zu tauschen, ist diese Währung sogar besser als harte Münzen und knisternde Scheine – leichter, weniger sperrig und leichter nachzuverfolgen. (S. 219)

6. Im Jahr 1500 lebten 500 Millionen Menschen auf unserem Planeten. Heute sind es 7 Milliarden. Im Jahr 1500 wurden auf der ganzen Welt Waren und Dienstleistungen im Wert von umgerechnet 250 Milliarden Dollar produziert. Heute sind es knapp 60 Billionen Dollar. Im Jahre 1550 verbrauchte die Menschheit pro Tag 13 Billionen Kalorien Energie. Heute verbrauchen wir pro Tag 1500 Billionen Kalorien. (Lassen Sie diese Zahlen einmal auf sich wirken: 14 mal so viele Menschen produzieren 240 mal so viel und verbrauchen dabei 115 mal so viel Energie.) (S. 301)

7. Wenn Sie alle Menschen auf eine riesige Waage stellen würden, kämen Sie auf rund 300 Millionen Tonnen. Wenn Sie alle Nutztiere – Kühe, Schweine, Schafe und Hühner – auf dieselbe Waage stellen würden, kämen Sie auf etwa 700 Millionen Tonnen. Im Gegensatz dazu brächten die freigebenden Wirbeltiere – von Igeln und Spitzmäusen bis zu Elefanten und Walen –  gerade einmal 100 Millionen Tonnen auf die Waage. In unseren Kinderbüchern und auf unseren Fernsehschirmen wimmelt es nur so vor Giraffen, Wölfen und Schimpansen, doch in der wirklichen Welt gibt es kaum noch Wildtiere. Auf dem ganzen Planeten leben heute noch 80.000 Giraffen, verglichen mit 1,5 Milliarden Rindern; 200.000 Wölfe, verglichen mit 400 Millionen Haushunden; und 250.000 Schimpansen, verglichen mit Abermilliarden Menschen. (S. 427 f.)

 

 

Mein Exemplar von Yuval Noah Hararis „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ stammt von der Deutschen Verlags-Anstalt, München 2013.

 

Auch Hans-Peter Geyer hat Hararis Buch – und diesen Beitrag – gelesen und schreibt: 
Interessant finde ich die Gliederung der Menschheitsgeschichte nach drei Revolutionen:
– die kognitive Revolution,
– die landwirtschaftliche Revolution, mit der menschliche Gesellschaftsformen immer komplexer wurden,
– die wissenschaftliche Revolution einschließlich der industriellen Revolution.
Ich hätte noch die „Digitale Revolution“ hinzugefügt, weil ich mir sicher bin, dass diese unsere Gesellschaft genauso umpflügen wird wie die drei zuvor genannten Revolutionen.
Originell, dass H. die landwirtschaftliche Revolution als größten Betrug der Geschichte bezeichnet, weil die meisten Menschen danach immer mehr arbeiten mussten, dafür eine ärmere Kost, mehr Kinder und mehr Armut bekamen. Er bezeichnet die landwirtschaftliche Revolution als den Anfang vom Ende, weil der Mensch den intensiven Kontakt zu seiner Umwelt verloren hat (im Gegensatz zu den Sammlern und Jägern). Schon seit zehntausend Jahren habe es permanente stets von Menschen gemachte Umweltkatastrophen gegeben. Erleuchtend ist die Feststellung, dass die landwirtschaftliche Revolution  habe den Menschen zwangsläufig auch die Erfindung von Schrift und Zahlen gebracht hat, weil ohne diese größere Gemeinschaften nicht zu verwalten wären und damit existieren könnten.
Zwei Zahlenbeispiele (nicht neu, aber immer wieder beeindruckend):
– 1830 wurde die erste Eisenbahmlinie in Großbritannien gebaut, 1850 gab es in den westlichen Nationen bereits 40.000 km Eisenbahnstrecke. Heute werden 7-10 Jahre für den Neubau einer Strecke benötigt bei erheblich verbesserten technischen Mitteln. Wie war das früher möglich? Nur durch den hemmungslosen beginnenden Kapitalismus und mehr Leichtsinn?
– die Zahl der Kriegstoten ist heute auf den niederigsten Stand aller Zeiten zurückgegangen. Das ist doch sicher auch ein zivilisatorischer Fortschritt im Geschichtsverlauf neben dem medizinischen  und wertebezogenen, den Harari ansonsten immer wieder in Frage stellt.

Ein anderer Leser gibt – vielleicht als Antwort auf Hararis Skeptizismus – eine weitere Buchempfehlung:  Steven Pinker, Aufklärung jetzt von 2016, der lebende Nachfolger von Karl Popper. Optimismus vor und nach der Bundestagswahl hilft gegen schlaflose Nächte.