Johannes Brahms, „An eine Äolsharfe“

Klavierlied aus op. 19 auf einen Text von Eduard Mörike

Eine Äolsharfe ist ein langer, schmaler Resonanzkasten mit oder ohne Schallloch und mit zwei Stegen, über den eine beliebig große Anzahl im Einklang gestimmter Darmsaiten von verschiedener Dicke gespannt ist. Wenn ein Luftzug die Saiten streift – eine Äolsharfe kann z.B. in einem Baum verborgen aufgehängt sein –, so fangen diese an zu klingen und ergeben infolge der unterschiedlichen Spannungsgrade verschiedene Obertöne des gemeinsamen Grundtons.

Diese nüchterne Beschreibung richtet sich freilich nur auf die technische Außenseite eines Klangkörpers und verfehlt so die Aura, die die Äolsharfe für Goethe, E. T. A. Hoffmann und, diesen nachfolgend, einige spätere Dichter der romantischen Epoche gehabt haben muss: die eines nicht von Menschenhand, sondern von der Geisterhand der Natur selbst gespielten Musik-instruments, dessen Töne nicht aus dem platten Diesseits, sondern wie aus einem Zwischenreich zwischen Dasein und Nichts herüberzuklingen scheinen. (Äolus ist der Gott des Windes, daher: „einer luftgebor’nen Muse geheimnisvolles Saitenspiel“.) In der Tat ist der Klang der Äolsharfe von zauberischer Wirkung, da je nach Windstärke der Akkord in unterschiedlicher Klangfärbung vom zarten Piano bis zum rauschenden Forte anschwillt und wieder verhallt. (Darstellung in Teilen angelehnt an Meyers Konversations-Lexikon von 1888)

Die Äolsharfe des Gedichts von Eduard Mörike wird zum Klingen gebracht durch einen Wind, der in der Seele des Ich eigentümlich wechselnde Empfindungen hervorruft. Er kommt aus weiter Ferne („von fern herüber“) und wie aus der Vergangenheit („war“), kommt vom Grab eines einst geliebten Menschen. Auf seinem Weg ins Jetzt nimmt er den Duft von Frühlingsblüten auf. Ein etwas heftigerer Windstoß ruft ein kräftigeres Klingen der Äolsharfe hervor („ein holder Schrei der Harfe“) und damit auch eine Wiederholung und Vertiefung der Gefühle des Ichs („meiner Seele plötzliche Regung“). Der Windstoß schüttelt auch eine Rose, die so ihre Blätter verliert.

Die charakteristisch gemischte, zwischen Grabesgeruch und Blütenduft schwankende Stimmung des Gedichts wird in immer neuen Wortzusammenstellungen beschworen: „melodische Klage“, „frisch grünender Hügel“, „wohllautende Wehmut“, „holder Schrei“, „süßes Erschrecken“. Der Wohlgeruch ist einer von Frühlingsblüten, also einer von Zukunft und Werden, von Neuheit und Aufbruch. Auch hierzu bringt das Gedicht das Gegenbild: das herbstliche Bild der die Blätter verlierenden Rose, ein Bild von Vergangenem und von Vergehen, von Abschied und von Alter.

Die Einteilung des Gedichts in drei unterschiedlich lange Strophen mit unterschiedlich langen reimlosen Zeilen wird von Brahms aufgenommen und durch eine zwischen Rezitativ und liedhaft gebundener Komposition schwankende Formgebung noch betont. Diese Formgebung ist offensichtlich inspiriert durch die Zeile „fange wieder an deine melodische Klage“: Das Rezitativ bildet hier das Vorspiel zum Eigentlichen, der „melodischen Klage“ des mit dem in der Folge fast durchgehend beibehaltenen Begleitmotiv einsetzenden liedhaften Hauptteils. Das rezitativische Element wird dann, zu Beginn des dritten Teils des Gedichts, noch einmal wieder aufgenommen. Auch dies ist im Text begründet: Der Wind fängt noch einmal, nun heftiger, an zu wehen. Dies fuhrt zu einer Wiederholung: einerseits inhaltlich (die Wiederholung der „plötzlichen Regung“), andererseits musikalisch (das erneute Einsetzen des Hauptteils). Eine strophische Gliederung – bei Brahms der Normalfall – liegt hier also nicht vor, vielmehr eine freie Gestaltung mit einer doppelten Aufeinanderfolge von Rezitativ und liedhaft gebundenem Abschnitt. Die zweite Durchführung dieses Gegensatzes (ab „aber auf einmal“) klingt an die erste an, ist aber keine bloße Wiederholung des ersten Durchgangs.

Der erste, rezitativische Abschnitt ist 24 Takte lang. Er beginnt mit einer relativ „trockenen“ Deklamation der Singstimme über ausgehaltenen Akkorden, die in einer erweiterten Kadenz vom fis-moll des Beginns zur Tonikaparallele A-dur führen. (Die Akkordfolge ist schon aus dem Rezitativ des Barock vertraut, insbesondere die der ersten sechs Takte: T – S mit Sext statt Quinte – D7 – T über dem liegenbleibenden orgelpunktartigen Grundton der Tonika.) Dieser harmonische Aufhellungsprozess korrespondiert mit einem der Lage: Die Akkorde des Beginns stehen in der Tenor/Bass-Lage des Klaviers und werden, zunächst nur allmählich, in höhere Lagen geführt. Der doppelte Aufhellungsprozess ist bei den Worten „geheimnisvolles Saitenspiel“ an ein Ziel gekommen. Das Saitenspiel deutet sich an in der nun bewegteren und in der Sopran/Alt-Lage angesiedelten Begleitung, die die Vierteltriolen des späteren Begleitmodells vorwegnimmt. Die Gesangsstimme wird nun melodisch belebter. Konsequent ereignet sich die erste melismatische Textkomposition auf dem Wort „melodisch“. (Brahms lehnt sich hier an die opernhafte Folge Secco – Accompagnato an; es ging ihm offenbar, das zeigt auch die erwähnte vertraut anmutende Akkordfolge, um eine typische Gestaltung.)

Das Moment von behutsamer Tonmalerei – Akkorde in hoher Lage, verschwimmende Rhythmik durch das Gegeneinander von Vierteln und Vierteltriolen: beides wohl als Äqui­valent des sphärischen, ungreifbaren Klangs der Äolsharfe gemeint – wird im in Takt 25 ein­setzenden Begleitmodell des Klaviers wieder aufgenommen: Viertel und Vierteltriolen sowohl nacheinander (in der linken Hand) als auch übereinander (zum ersten Mal in Takt 31), dazu eine überwiegend hohe Lage des Klavierparts, insbesondere der rechten Hand. Dies Begleit­modell wird nun für fast 50 Takte beibehalten.

Die bei „Ihr kommet, Winde“ einsetzende Melodie der Gesangsstimme erfüllt zunächst typisch Brahmssche Bedingungen der Liedmelodik: regelmäßige Gliederung (vier und zwei mal zwei Takte), diatonischer Bau, Dreiklangs- und Skalenelemente. Auffallend sind die Phrasenenden („herüber“, „Knaben“, „lieb war“), die stets mit einem Vorhalt komponiert sind, was zu dem verhalten schmerzlichen Ausdruck des Textes gut zu passen scheint. Ein erstes Ziel wird mit der Dominante bei „Herz“ erreicht (Takt 53). Nun setzt eine Steigerung ein: die Phrasen verlieren ihre liedhafte Eingängigkeit, die harmonische Gestaltung wird komplexer. Ein unterstützendes Crescendo findet sein Ziel in dem schmerzlich-herben Vorhalt auf dem Wort „Sehnsucht“ (die Sext des Akkords wird über der Akkordsept als Bassnote zur Quinte aufgelöst) und wird – dem „wachsend – hinsterbend“ des Textes folgend – in ein auskomponiertes Diminuendo überführt: Der Dominantseptakkord wird ( einen eingeschobenen Takt bei „sterbend“ hinzugerechnet) über sechs Takte beibehalten, aber klanglich fortlaufend verringert, sowohl im Tonraum als auch in der Stimmendichte als auch dynamisch. Diese langanhaltende Klangfläche erhöht den Überraschungs-effekt des trugschlussartig einsetzenden verminderten Akkords: Diese plötzliche Wendung, wiederum ganz textadäquat zu „aber auf einmal“, beendet diesen Abschnitt des Liedes.

Auch in den folgenden 30 Takten verhält sich Brahms‘ Musik zum Text nachempfindend und nachgestaltend, nicht korrigierend oder kritisch interpretierend. (Ein raffiniertes Detail ist die musikalische Gestaltung der Schüttelbewegung der Rose: Mit den Worten „und hier“ setzt in der rechten Hand eine Pendelbewegung ein, die das Schütteln geradezu räumlich nachbildet und mit dem an dieser Stelle konsequent durchgehaltenen Zwei-gegen-drei-Rhythmus das Verstörende dieses Vorgangs umsetzt. In den Folgetakten sinkt diese Pendelbewegung um eine Oktave bis zu dem Wort „Füße“ – was nur dann platt gegenständlich wäre, wenn Brahms diesen Vorgang nicht mit der ihm eigenen Zurückhaltung komponiert hätte.) Selbst das fünftaktige Nach­spiel des Klaviers ist nicht etwa eigener Kommentar: Ein ausgebreiteter Tonika-Akkord führt die äußere Bewegung der Musik und damit die innere Bewegtheit der Seele zur Ruhe.

Die „wohllautende Wehmut“ ist freilich eine diesem Komponisten besonders eigene Ausdruckssphäre, hat er doch das, was ihn innerlich bewegte, nie anders als mit äußerster Diskretion, nie anders als diszipliniert durch die wohllautende Form, laut werden lassen. Die Affinität zum Text erklärt vielleicht, warum ihm hier eine seiner bedeutendsten Liedschöpfungen gelang, obwohl sowohl die Wahl des Dichters (Mörike gehört eher zu Hugo Wolf als zu Johannes Brahms) als auch die Form der Komposition für ihn ungewöhnlich sind. Anrühren mag uns weniger die deutliche Identifikation als die Entstehungszeit. Brahms war, als er dies Lied mit der Opuszahl 15 komponierte, gerade einmal 26 Jahre alt: „Und hier, die volle Rose…“

(2006)

Eduard Mörike: An eine Äolsharfe (Text)