Haibun der Woche 23 – 4. Juni 2023

Das ausgedehnte Tal der Innerste, hier ganz  in der Nähe, wird von einer Eisenbahnlinie durchquert, die weiter bis zum Nordrand des Harz führt. Für einige Kilometer verläuft die Trasse schnurgerade; etwa in der Mitte dieses Abschnitts führt in genau rechtem Winkel ein Radweg hin zu einer Bahnschranke, die nur bei  Bedarf geöffnet wird.

Auf meinem Rad nähere ich mich dieser Schranke und sehe dabei schon von weither einen Zug herankommen. Mit der Präzision eines Comicstrips, den ich vor Jahren einmal gesehen habe – in einer menschenleeren Wüste rasen eine Dampflok und ein Caravan unerbittlich auf ihren Treffpunkt zu –  erreiche ich genau in dem Moment die Schranke, als auch der Zug, mit mäßigem Tempo übrigens, dort anlangt. Es war eine Sache von Sekunden oder Sekundenbruchteilen: Wäre einer von uns nur wenig schneller oder langsamer gewesen, wäre das Folgende nicht passiert. 

Als ich eben zum Stehen gekommen bin, sehe ich im letzten Wagen des fast menschenleeren Zugs einen Mann sitzen, der mich ebenso in den Blick nimmt wie ich ihn. Verblüfft erkenne ich in dem Passagier Hans-Heinrich, den ich wohl zwanzig Jahre nicht gesehen habe, und sehe, dass auch er mich erkennt und sich überrascht etwas von seinem Sitz erhebt. – Hans-Heinrich war eine Zeitlang sehr wichtig für mich gewesen. Wir hatten viel Zeit miteinander verbracht und zwei oder drei gemeinsame Projekte geplant, bevor er irgendeine große Chance in der Hauptstadt bekam und andere Wege ging. Ich hätte ihn eher in New York oder London vermutet als hier in diesem abgelegenen Tal. – Gleichzeitig erheben wir, verwirrt und zögerlich, unsere Arme, um einander zuzuwinken, dann sind der Zug und der Mann schon vorbei.

Zu Hause versuche ich sofort zu recherchieren, was aus Hans-Heinrich geworden ist, kann ihn aber in den Weiten des WWW nirgends finden. Er wiederum hätte mich auf diese Weise durchaus erreichen können – das hat er wohl nicht versucht. 

 

Unterwegs.
S
chranken und Gitter überall.
S
pur halten…

Wolfgang Volpers

 

 

 

Ein Kommentar von Cornelius Reinsberg:  „Mein Kompliment für das heutige Haibun. Vielleicht die Verbindung von Melancholie und Situationskomik im dramatischen Aneinandervorbeischrammen… Leben als Verfehlung.“

Und Birgit Wendling schreibt: „Sehr gelungen! Ich nehme an, es hat sich tatsächlich so zugetragen. Ein seltsames Erlebnis, das etwas von einem Traum hat. Es könnte natürlich ein Doppelgänger gewesen sein und du warst umgekehrt für den anderen auch einer… Das Leben hat die verrücktesten Sachen auf Lager.“

Almut Schwickert meint: „Sehr sehr eindrücklich und zum Nachdenken anregend!  Die Szene ist rasant, einmalig, unwiederholbar, wenn man will erschütternd. Ich sehe darin keineswegs ‚Verfehlung‘, sondern den aufregenden Moment der Begegnung und des Erkennens, Lebensinhalt schlechthin!  Das abschließende Haiku eine Reaktion, die ich bestaune, aber ganz anders erwartet hatte nach Schilderung der Szene!“

Hartmut Schulz kommentiert mit einem Haiku:

schwierige übung
nicht hinterherschauen
der blick bleibt sitzen

Hartmut Schulz