La Wally – In Vergessenheit geraten
Anlässlich einer Aufführung im Ulmer Theater
Eine seltsame Erscheinung 1889 in den Straßen von Mailand: Ein Mann mittlerer Größe. Er ging langsam und vornübergebeugt, den Kragen seines Mantels, im Hochsommer, bis zu den Ohren hochgezogen. Als er mit gesenktem Kopf an uns vorüberschritt, sahen wir sein graues Haar und hörten, wie er vor Anstrengung keuchte. Der Greis, der hier von einem Schüler (und späteren Biographen) beschrieben wird, ist fünfunddreißig Jahre alt. Tatsächlich ist Alfredo Catalani bereits wenige Jahre vor seinem frühen Tod bereits ein Mann außerhalb der Zeit.
Die Zeiten sind für die italienische Oper nicht günstig. Die siebziger und achtziger Jahre sind die Jahre des Schweigens das Altmeisters Verdi. Nach dem Requiem von 1884 überrascht der 74jährige und dann der 80jährige die Opernwelt mit Otello und Falstaff: bewunderte, aber in der Geschichte der Oper folgenlose Einzel- und Glücksfälle. Die giovane scuola Puccinis und der sogenannten Veristen hat aber die Bühne noch nicht oder allenfalls mit Talentproben statt mit gültigen Werken betreten: Mascagnis Cavalleria rusticana erscheint 1890, Puccinis Manon Lescaut 1893 und die Bohème desselben Komponisten 1896, im selben Jahr wie Umberto Giordanis Hauptwerk Andrea Chenier.
Die Opernkrise der siebziger und achtziger Jahre, wenn es denn eine ist, ist im wesentlichen eine des Librettos. Verdis Stoffe zielen, auch nachdem er sich von den Chor- und Volksopern der frühen Jahre zu den Charakterdramen der Reifezeit gewandt hatte, immer auch ins Politische. Der Elan der Erhebung, der seine Stoffwahl und seine Musik (bis in die Alterswerke hinein) prägte, ist aber in den Siebzigern schon längst erloschen, und der Schwung der Utopie, der Verdi zeitlebens bewegte, teilt sich dem dreißig Jahre jüngeren Catalani nicht mehr mit. In dieser Epoche der unsicheren Suche nach für die Opernbühne geeigneten Themen gibt es ein kurzlebiges Interesse für deutsche romantische Stoffe. Puccinis Erstling Le villi spielt in einer Schwarzwald-Geisterwelt, Mascagnis Guglielmo Ratliff und Catalanis Loreley beziehen sich direkt oder indirekt auf Heinrich Heine. Der Sensationserfolg der Cavalleria bedeutet das endgültige Aus für diesen Kult des Wäldlich-Düsteren. Die Wally ist da bereits ein Nachkömmling: Was für Mascagni und Puccini eine Durchgangsstation gewesen war, ist für Catalani eine letzte Entscheidung. Schon wenige Jahre nach der noch beifällig aufgenommenen Premiere hatten der Blutdurst des Verismo und Puccinis bürgerliche Heroinen Catalanis Werk bereits ins Abseits geschoben.
Eine Situation des Dazwischen also, die ihren Reflex in der musikalischen Gestaltung findet. Nicht mehr findet man in La Wally die rhythmische Energie und den großen Atem der Meisterwerke Giuseppe Verdis; noch nicht hört man die subtile Klangpoesie und die tragisch schmelzende Melodie des jungen und mittleren Puccini. Der verminderte Septakkord, der mit der Regelhaftigkeit eines Naturgesetzes bei den Katastrophenstellen des Alten durch das Orchester schrillt, kommt noch vor (als Wally Gellner von der Brücke stoßen will, in ganz typischer Manier). Er wirkt aber im Zusammenhang der mehr lyrischen Inspiration Catalanis fast schon wie ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten. Für die harmonischen und instrumentatorischen Kühnheiten Puccinis, die sich insgesamt zu einem Personalstil von unverwechselbarer Eigenart zusammenfügen, war aber Catalani wohl zu vorsichtig. Während der junge Giacomo bereits in Le villi solche in der italienischen Oper unerhörte Dinge wie einen Tredezimenakkord wagt, beschränkt sich Catalani auf dezente – jahrhundertelang von der Kompositionslehre verbotene – Quintparallelen, die er im Edelweißlied, besonders sinnfällig am Ende des ersten Aktes, einsetzt. Überzeugend war und ist heute noch die Instrumentation der Wally. Man glaubt Instrumente zu hören, die man vorher nie gehört hat! behauptete Mascagni begeistert und verwies auf Wagner. Auch wenn man diesen euphorischen Vergleich zurückweist: In der kultivierten Behandlung des Orchesters liegt sicher eine der großen Stärken Catalanis.
Dass Catalani nicht so erfolgreich war – jedenfalls nicht in dem Maß wie Puccini oder Mascagni -, ist nicht (jedenfalls nicht in erster Linie), auf einen Mangel an Begabung zurückzuführen, vielmehr auf jene Situation des Dazwischen, auf die Schwierigkeiten einer Epoche des Übergangs. Ein Mann außerhalb der Zeit, außerhalb der Bahn: außerhalb der eigenen Entwicklungsbahn und der Bahn der Entwicklung seiner Kunst. Es kann nicht wundernehmen, dass die eigentliche Stärke des 35jährigen Greises im Lamento liegt. Von den Klagestücken um die urmenschlichen und die uropernhaften Situationen des Fortmüssens und des Abschieds, der Einsamkeit und der Verlassenheit gibt es in La Wally eine bewegende glückliche Fülle, z.B. das Vorspiel zum dritten Akt und fast alle großen Szenen der Wally. Vor allem natürlich das große Erfolgsstück des Werkes, die Arie Ebben? Ne andrò lontana, die der Zielpunkt des ersten Aktes ist. Diese Musik – das Paradestück einer Diva – ist der ganze Catalani: der Gesang der Wally, die vor den Zumutungen der Wirklichkeit in die kalte Einsamkeit der Berge fliehen zu müssen glaubt. Der melodische Einfall entstammt einem früheren Lied des Komponisten, einem Chanson groënlandaise (womit eine klimatische Beziehung nachgewiesen wäre). Aus dem dominierenden Quintton fällt die Gesangsstimme in wehmütigen Wellen nach unten, lang auf der Quart verharrend und damit die wehmütige Dissonanz betonend, die das Stück schon beim ersten Hören unvergesslich macht. Der Einklang zwischen Musik und Szene scheint vollkommen: der hohe Schneeglanz der Violinen, die unglücklich zögernde Melodik. Das Fortmüssen in die Kälte scheint Catalani zu dieser beeindruckenden Leistung inspiriert zu haben, ihn, der auch im Sommer wegen der Kälte, die um ihn war, den Mantelkragen hochschlug.
Die Arie Ebben? Ne andrò lontana hat durch Jean-Jacques Beineix’ Film Diva von 1981, auf den der obige Text im Vorübergehen anspielt, einen ungeheuren Popularitätsschub erfahren. Sie war auch ein Glanzstück von Maria Callas, die sie in der Tat unvergleichlich schön und ausdrucksvoll singt: