Über Mo Yans Roman „Die Sandelholzstrafe“

 

(Die folgende Rezension stammt aus dem Jahr 2012, also dem Jahr der Nobelpreisverleihung an Mo Yan. Die Seitenabgaben beziehen sich auf die Ausgabe des Insel-Verlages aus dem gleichen Jahr.)

 

Was haben José Echegaray, Iwan Bunin und Carl Spitteler gemeinsam? Nicht alle Leser werden die Antwort wissen: Es sind drei von insgesamt 109 Trägern des Literatur-Nobelpreises, des angesehensten Literaturpreises der Welt. Vor vielen Jahren hatte ich einmal als braver Bildungsbürger den Plan gefasst, sämtliche mit diesem Preis ausgezeichnete Bücher nacheinander zu lesen. Ganz rasch habe ich dieses Vorhaben aufgegeben: Zuviel Mittelmäßiges, zuviel der eigenen und nun schon lange vergangenen Zeit Verhaftetes, zu viel mit Recht Vergessenes befindet sich darunter. Man muss sich bei einem solchen Projekt ja gleich am Anfang durch acht Bände „Römische Geschichte“ von Theodor Mommsen durcharbeiten und in der Folge dann durch fast zwanzig Bücher überwiegend unbekannter skandinavischer Autoren – die wohl einem gewissen Lokalpatriotismus folgend etwas überrepräsentiert sind.

In diesem Jahr bekommt der Chinese Mo Yan den Preis, für seinen 1996 bis 1998 geschriebenen und 2009 auf Deutsch erschienenen Roman „Die Sandelholzstrafe“, weil er – so die Begründung des Stockholmer Komitees – „mit halluzinatorischem Realismus Märchen, Geschichte und Gegenwart vereint”. Die Preisvergabe ist aus politischen Gründen stark angefeindet worden; immerhin war Mo Yan Propagandaoffizier in der sogenannten Volksbefreiungsarmee und Vertreter des offiziellen China bei der Frankfurter Buchmesse 2009. Der diesjährige Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Liao Yiu bezeichnet Mo Yan verächtlich als einen „Staatsdichter“. In Stockholm angekommen, ließ Mo Yan verlauten, Zensur sei notwendig und sinnvoll. Sie sei ein lästiges Übel, so wie die Sicherheitskontrollen am Flughafen. Ai Weiwei, der von der chinesischen Regierung drangsalierte Künstler, sagt über Mo Yan, er vertrete die Linie der Behörden, ohne Logik und ohne  Moral. – Mir aber geht es jetzt um das Buch selbst.

Die Handlung spielt im Jahr 1899. China ist in der Krise. „Von überall her drängen fremde Menschen in das zuvor verschlossene Reich.“ Die Deutschen, die in China eine Eisenbahn bauen, kommen im Roman besonders schlecht weg – sie sind nicht nur unbarmherzig und brutal, sondern auch lächerlich: „Einer der deutschen Soldaten hatte sich unter ein Bett geflüchtet, unter dem seine langen Beine hervorsahen. Zhu Bajie versetzte ihm einen ordentlichen Hieb mit der Mistgabel, woraufhin der Soldat ein unverständliches Geschrei ausstieß, das klang, als ob er nach Vater und Mutter riefe. Ein einzelner Soldat rannte in die entgegengesetzte Richtung. Seine langen Beine, auf denen er wie auf zwei Krücken voranstolperte, waren ein komischer Anblick. Der General bündelte seine Kräfte und versetzte dem Feind einen mächtigen Hieb mit seinem Stock. Dieser schrie in seiner merkwürdigen Sprache auf. Sun Bing nahm den Schafsgeruch wahr, den der Mann verströmte. Für eine Sekunde schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß der Mann von einem Schaf abstammen mußte.“ (S. 289/290)

In diese Zeit des Umbruchs stellt Mo Yan fünf Personen, die in einem geradezu teuflischen Kreis miteinander verbunden und aufeinander bezogen sind. Im Mittelpunkt dieses Kreises steht die junge und schöne Meiniang, die leider zu große Füße hat, weil sie ihr nicht als Kind, wie es die Tradition verlangt, zusammengebunden wurden. Ihr Vater ist der Opernsänger Sun Bing, der zum Anführer des Aufstandes gegen die Eisenbahntrasse und ihre deutschen Erbauer wird. Ihr Geliebter Qian Ding ist der Präfekt von Gaomi, der Sun Bing ergreifen und einer grausamen Strafe zuführen muss. Ihr Mann Xiaojias ist ein wirrer, impotenter und auch sonst nicht für voll zu nehmender Schwachkopf. Dessen Vater aber, Meiniangs Schwiegervater also, ist die fürchterliche eigentliche Hauptperson des Romans, der alte Henker und Foltermeister Zhao Jia, diejenige Person, mit deren Hilfe das in Auflösung begriffene Regime noch einmal die eigene Macht durchzusetzen versucht – er soll Sun Bing foltern und hinrichten.

Dieser Zhao Jia hatte sich der kaiserlichen Familie dadurch beliebt gemacht, dass er die Hinrichtung eines Eunuchen, der im Palast ein Gewehr stahl und für den sich der Kaiser eine besonders drastische Strafe wünschte, mit großem technischem Geschick ausführte. Der Henker und seine Gehilfen üben diese Hinrichtungsweise mehrfach, bevor das eigentliche Opfer an der Reihe ist. Zu diesem Zweck leihen sie sich von der Polizei den einen oder anderen zum Tode Verurteilten aus, an dem sie trainieren und die Feinheiten ihres Handwerks ausprobieren. Unter den Schmerzensschreien dieser Männer verfeinern sie ihre Technik so weit, dass sie den Eunuchen und Palastdieb auf virtuose Weise zu Tode bringen: Sie legen eine Schelle um seinen Kopf, die sie so lange und so geschickt zuziehen, dass im letzten Moment, bevor er sein Leben aushaucht, die Augäpfel durch die dafür in der Schelle vorgesehenen Löcher nach außen springen.

Es gibt mehrere ausgedehnte und detaillierte Folterkapitel in diesem Buch. Die „Sandelholzstrafe“, die dem Buch den Titel gibt und seinen Abschluss bildet, ist die Pfählung eines Menschen, bei dem ein langes Stück Sandelholz so in den Anus getrieben wird, dass der Verurteilte noch erlebt, wie es an seiner Schulter wieder aus dem Körper austritt. (Die Strafe der Pfählung ist im Irak noch 2009 in etwa dieser Art vollstreckt worden, ein homosexuelles Liebespaar wurde auf diese Weise zu Tode gebracht. Photos und eine Videodokumentation der Hinrichtung – eigentlich: Ermordung – der beiden Männer wurden stolz im Netz veröffentlicht.)

Wieso erzählt man etwas so ausführlich? Mo Yan wollte mit seinem Buch ein besonders unterhaltsames und besonders volkstümliches Stück Literatur schreiben, von dem er sich vorstellt, dass es auch auf öffentlichen Plätzen von einem Sprecher mit rauer Stimme vorgelesen werden kann. Im letzten Satz seines Nachworts bedauert er, „daß dieser Rückschritt ins Volkstümliche nicht noch stärker ausgefallen ist“. Mo Yan will mit diesen grausamen Szenen unterhalten, so wie im Mittelalter Hinrichtungen auf dem Marktplatz ein öffentliches Gaudi und Spektakel waren. Das größte Operndrama, so heißt es an einer Stelle, ist die Hinrichtung eines Menschen. Zum Unterhaltungswillen Mo Yans gehören auch die komischen Szenen des Buches, wenn zum Beispiel Qian Ding und Sun Bing bei einem öffentlichen Wettbewerb ihre prächtigen Bärte im Wasserbad miteinander vergleichen – das ist freilich ein Humor, für den ich keinen Sinn habe.

Die Sprachmacht Mo Yans wird sehr gelobt. Ich kann das Buch nur in einer Übersetzung lesen und habe keine Ahnung davon, was in einer Übersetzung aus einer Sprache, die so völlig anders funktioniert als unsere, möglich ist und was nicht. Manches kommt mir allerdings unbeholfen vor: „Sun Bing rannte die Straße entlang, Er spürte, wie ihm das Blut zu Kopf stieg. In seinen Ohren dröhnte es, sein Blick war verschwommen. Deformierte Gesichter prallten an seinen Schultern ab.“ Ich kann nicht beurteilen, was an diesen simplen Sätzen, was an diesem schiefen Bild Mo Yan und was der Übersetzerin Karin Betz anzulasten ist.

Nach drei Monaten habe ich die „Sandelholzstrafe“ wieder zur Hand genommen und auch in einigen Kritiken gestöbert – diese erwiesen sich aber als größtenteils unergiebig, da sie überwiegend voneinander und von den Informationen des Suhrkamp-Verlages abgeschrieben haben. U.a. wird Mo Yans Roman immer wieder mit „Hundert Jahre Einsamkeit“ verglichen, dem Nobelpreisbuch von 1999. Da vergleicht man nicht nur Äpfel und Birnen, sondern auch Gold und Lehm. Den vielschichtigen und ungeheuer facettenreichen Roman von Gabriel García Marquez habe ich zweimal gelesen und freue mich auf das dritte Mal – meine Beschäftigung mit Mo Yans Roman schließe ich nun ab.

Etwas distanzierter sehe ich jetzt die Rolle der Deutschen in diesem Buch, die mich beim ersten Lesen etwas verärgert hatte. Das Auftreten der Deutschen als Kolonialmacht ist doch wohl so gewesen, dass man sich den Spott aus der Perspektive der Kolonialisierten wohl gefallen lassen muss. Zugestehen muss ich Mo Yan auch, dass ich Einblicke in eine mir völlig fremde Welt getan habe – das ist ja eine Aufgabe der erzählenden Literatur. Und anerkennen muss ich, dass der Schluss des Romas zwar wiederum grausam und auch melodramatisch, aber doch sehr gut und eindrücklich ist:

Aus Peking kommen die Nachrichten vom Ende des Kaiserreiches: „Die Hauptstadt ist gefallen, der Staat ist ruiniert. Ausländer haben das Land besetzt und teilen es in Territorien auf.“ (S. 633) Sun Bing, der Gepfählte, der die Sandelholzstrafe erlitten hat, wird noch mit allen Mitteln am Leben gehalten, denn er soll erst am nächsten Tag zum Fest zur Eröffnung der Bahnlinie endgültig sterben – so wollen es die Deutschen und ihre Kollaborateure. Eine Schauspielertruppe tritt auf, die mit einer letzten Darbietung ihren Meister Sun Bing (der Sterbende war ja ein Star der sogenannten Katzenoper, einer volkstümlichen Opernform, gewesen) ehren wollen. Die Deutschen verstehen nicht und halten die Aufführung für einen Akt der Rebellion. Sie eröffnen das Feuer, die gesamte Schauspieltruppe kommt im Kugelhagel der Mausergewehre um. Jetzt endlich begreift Qian Ding, der Präfekt von Gaomi, dass er zum Diener der falschen Herren geworden ist. Er läuft zu dem Gepfählten, der pflichtbewusste Henker will ihm den Zugang zu dem Sterbenden verwehren, wird aber während des Handgemenges hinterrücks von Meiniang, seiner Schwiegertochter, mit einem Dolch getötet. Mit diesem Dolch, den der Präfekt aus der Leiche des Henkers herauszieht, befreit er den Gepfählten von seinem Leiden und befreit ihn so auch von seiner Rolle, die er für die Deutschen spielen sollte. „Seine Augen leuchten und auf seinem Gesicht liegt plötzlich ein sonderbarer Glanz – heller als der Glanz des Mondlichts. Blut läuft aus seinem Mund und mit seinem Blut stößt er die Worte hervor: ,Die Vorstellung ist … zu Ende.‘“ (S. 638)