Zerstörer des Schweigens

Anlässlich der Aufführung von Schostakowitschs 13. Sinfonie „Babij Jar“ am 13. November 2016 in Hildesheim

Mit elf Jahren sieht Mitja Schostakowitsch, während der Februarrevolution 1917, wie Lastwagen durch die Straßen Petrograds fahren, von denen Soldaten blindlings in die Menge feuern. Ein Kosak sticht vor seinen Augen mit seinem Säbel einen Jungen, nicht älter als er selbst, nieder. „Ich werde ihn nie vergessen“, sagt er später in seinen „Memoiren“. Das Klavierstück in Erinnerung daran, der „Trauermarsch zum Gedächtnis der Revolutionsopfer“, gehört zu seinen frühesten Kompositionen.

Gewalt und Tod, die Angst auch vor der eigenen Vernichtung begleiten ihn sein ganzes Leben. Noch der alte, inzwischen hochberühmte Schostakowitsch, mehrfacher Stalin-Preisträger, Held des Volkes, kulturelles Aushängeschild seiner Nation, verhindert die Veröffentlichung seiner „Memoiren“, weil er glaubt, den unausweichlich folgenden Repressionen nicht mehr gewachsen zu sein.

Umso mehr fällt ins Gewicht, wenn Schostakowitsch diese Angst überwindet und die Erwartungen der immer wieder mit äußerster Brutalität agierenden Kulturpolitiker unterläuft. Im Fall der Dreizehnten Sinfonie mit dem Beinamen Babij Jar riskiert der Komponist den offenen Bruch mit dem System, von dem er abhängig ist.

Die Schlucht Babij Jar war am 29. und 30. September 1941, vor 75 Jahren und 45 Tagen, der Schauplatz des größten einzelnen Massakers an jüdischen Männern, Frauen und Kindern im Zweiten Weltkrieg, das von Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD unter maßgeblicher Beteiligung der Wehrmacht durchgeführt wurde. Ein interner Bericht der „Einsatzgruppe C“ hält die Zahl von 33.771 Ermordeten akribisch fest und lobt das „gute Einvernehmen“ in der Zusammenarbeit mit der Wehrmacht. Jewgeni Jewtuschenkos Gedicht von 1961 erinnert, zum 20. Jahrestag des Massakers, an diese grauenvolle Mordaktion und kämpft gegen das Vergessen: „Es steht kein Denkmal über Babij Jar“.

Schostakowitsch macht sich des Dichters Anklage, die sich vor allem gegen den grassierenden Antisemitismus der eigenen Zeit richtet, sofort zu eigen: „Es wäre gut, wenn russische Juden endlich unbehelligt und glücklich in Russland, wo sie geboren sind, leben könnten. Unablässig muss man auf die Gefahren des Antisemitismus aufmerksam machen. Der Bazillus ist noch allzu lebenskräftig. Das Gedicht hat mich erschüttert.“

Auch in der sogenannten Tauwetter-Episode der Chruschtschow-Ära sind die Kulturpolitiker alarmiert: Als bekannt wird, dass Schostakowitsch diesen Text komponiert hat, versuchen Kultusministerium und Partei mit aller Macht, die Aufführung zu verhindern. Der ursprünglich vorgesehene Dirigent Jewgeni Mrawinski knickt ein und redet sich mit Arbeitsüberlastung heraus, der ursprünglich vorgesehene Solist entschuldigt sich mit Stimmproblemen. Noch um Mitternacht vor der Aufführung erhält Schostakowitsch Besuch von seinem Kollegen Dmitri Kabalewski, der ihn überreden will, die Aufführung abzusagen. Den Behörden gelingt es immerhin, den Abdruck der Texte im Programmheft zu verhindern, die Regierungsplätze im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums bleiben leer.

Schostakowitsch lässt sich jedoch nicht beirren, und die Uraufführung wird zu einem ungeheuren Erfolg. Krzysztof Meyer berichtet in seiner großen Schostakowitsch-Biographie: „Viele Zuhörer hatten Tränen in den Augen, und auch Jewtuschenko konnte sich der Tränen nicht erwehren.“ Der Komponist freilich scheint sich seines Triumphes nicht bewusst zu sein, wirkt traurig, grenzenlos erschöpft, betroffen „angesichts so vieler Menschen und einer solchen Reaktion“.

Die Auseinandersetzungen sind mit der Uraufführung keineswegs beendet. Man verlangt Textänderungen, die die Tragödie der Juden in den Hintergrund treten lassen und Babij Jar als Station im Kampf des russischen Volkes gegen den Faschismus präsentieren. Jewtuschenko gibt nach und schreibt eine Zweitfassung, Schostakowitsch aber ändert nur vorübergehend und nur Kleinigkeiten. Bis zum Ende seines Lebens feiert er im Familienkreis den Tag der Beendigung dieses Werkes wie seinen eigenen Geburtstag.

Vom frühen Trauermarsch bis zur Dreizehnten – das Gedächtnis an die Opfer zu bewahren ist eine der Konstanten von Schostakowitschs Schaffen: „Die Kunst ist der Zerstörer des Schweigens.“ Auch die heutige Aufführung, an der sich über 40 Sänger im Alter von 15 bis 75 Jahren beteiligen, dient nicht nur der großartigen Musik Schostakowitschs, sondern der Mahnung, dass ein solches Grauen sich nicht wiederholen darf.