Sieben Highlights aus „Faust II“
Das Stück ist unleserlich und unspielbar, heißt es. Dem letzteren stimme ich nicht zu. Zwei vollständige, ungekürzte, gelungene Aufführungen habe ich gesehen: die eine das maßgeblich von Peter Stein verantwortete Faust-Projekt anlässlich der Expo 2000 in Hannover – vielleicht etwas leidenschaftslos und im Spiel der Titelrolle etwas eintönig, aber insgesamt doch ein großes Erlebnis. Unterhaltsamer noch (Theater sollte doch immer „unterhaltsam“ sein) die Aufführungen im Mai 2016 im Goetheanum in Dornach; dort hatte man weite Abschnitte des Textes, der ja zu einem erheblichen Teil von Gruppen gesprochen oder gesungen werden soll, ganz richtig als Libretto aufgefasst und daraus fast Musical-hafte Szenen entwickelt.
Unleserlich schon eher. Natürlich ist das alles meisterhaft, solche Ungeschicklichkeiten wie diese sind ganz selten: „Ein großer Kahn ist im Begriffe auf dem Kanale hier zu sein.“ Aber die Lektüre zum Beispiel der Klassischen Walpurgisnacht ist jedenfalls für mich anstrengend und quälend, mindestens aber eine Herausforderung. Der fünfte Akt allerdings ist dann wieder unüberbietbar großartig.
Sieben Rosinen aus diesem insgesamt nicht leicht verdaulichen Kuchen habe ich herausgepickt, und wie für all die auf dieser Homepage unter „Dies und Das“ veröffentlichten Listen gilt auch für diese: Sie richtet sich weniger an Kenner und Liebhaber, kann aber vielleicht den einen oder anderen Newcomer neugierig machen.
Akt I – Kaiserliche Pfalz. Saal des Thrones – Ansprache des Kanzlers
Der Staatsrat tritt zusammen, denn im Lande geht es geht drunter und drüber, es droht der Bankrott. Der Kaiser hat allerdings keine Lust zu seinen Amtsgeschäften: Schließlich ist Karneval, er will sich amüsieren. Bevor er aber die Narrenmaske aufsetzen darf, muss er sich doch noch einmal anhören, was seine Ratgeber ihm zu sagen haben. Heermeister, Schatzmeister und Marschalk sprechen eindringlich, der Kanzler aber – übrigens kein sympathischer Mann, wie sich später zeigen wird – ist brillant.
Die Höchste Tugend, wie ein Heiligen-Schein,
Umgibt des Kaisers Haupt, nur er allein
Vermag sie gültig auszuüben:
Gerechtigkeit! — Was alle Menschen lieben,
Was alle fordern, wünschen, schwer entbehren,
Es liegt an ihm dem Volk es zu gewähren.
Doch ach! Was hilft dem Menschengeist Verstand,
Dem Herzen Güte, Willigkeit der Hand,
Wenn’s fieberhaft durchaus im Staate wütet,
Und Übel sich in Übeln überbrütet.
Wer schaut hinab von diesem hohen Raum
Ins weite Reich, ihm scheint’s ein schwerer Traum;
Wo Mißgestalt in Mißgestalten schaltet,
Das Ungesetz gesetzlich überwaltet,
Und eine Welt des Irrtums sich entfaltet.
Akt II – Hochgewölbtes, enges, gotisches Zimmer – Auftritt des Baccalaureus
Zum Jahreswechsel 2022/23 machte sich Harald Martenstein im ZEIT-Magazin Sorgen, „weil pauschale und machmal dümmliche Altenschmähungen heute an jedem Internet-Kiosk in reicher Zahl und gratis erhältlich sind“. Als Argument gegen eine Person reiche heute offenbar schon ihr fortgeschrittenes Alter.
Auch Martenstein weiß natürlich, dass die Verachtung des Alters keine Erfindung unserer Zeit ist. So deutlich wie sonst niemand spricht Goethes Baccalaureus – im ersten Teil der Tragödie noch ganz ängstlich und unterwürfig, jetzt überselbstbewusst – aus, was er denkt: „Am besten wär’s euch zeitig totzuschlagen.“
Des Menschen Leben lebt im Blut, und wo
Bewegt das Blut sich wie im Jüngling so?
Das ist lebendig Blut in frischer Kraft,
Das neues Leben sich aus Leben schafft.
Da regt sich alles, da wird was getan,
Das Schwache fällt, das Tüchtige tritt heran.
Indessen wir die halbe Welt gewonnen
Was habt ihr denn getan? genickt, gesonnen,
Geträumt, erwogen, Plan und immer Plan.
Gewiß das Alter ist ein kaltes Fieber
Im Frost von grillenhafter Not.
Hat einer dreißig Jahr’ vorüber,
So ist er schon so gut wie tot.
Am besten wär’s euch zeitig totzuschlagen.
(Mephisto) Der Teufel hat hier weiter nichts zu sagen.
Wenn ich nicht will, so darf kein Teufel sein.
(Mephisto) Der Teufel stellt dir nächstens doch ein Bein.
Akt IV – Hochgebirge – Fausts Monolog
Wer hat nicht schon einmal den Wolkenhimmel betrachtet und plötzlich dort oben in den Wolkenhäufungen etwas Vertrautes und Bekanntes entdeckt, ein pausbäckiges Gesicht vielleicht oder die Finger einer ausgestreckten Hand. Faust, den eben eine Wolke über Hunderte von Meilen und Tausende von Jahren in die Einsamkeit des Hochgebirges getragen hat, entdeckt in ihr, als sie sich ständig verändernd und sonnenbeschienen von ihm entfernt, das göttergleiche Ebenbild der Helena und in einem zarten lichten Nebelstreif seine Jugendliebe Gretchen. Wunderbar sind auch die Sentenzen, in denen Fausts Wahrnehmungen oder Visionen münden: „und spiegelt blendend flüchtiger Tage großen Sinn“, „und zieht das Beste meines Innern mit sich fort“.
Der Einsamkeiten tiefste schauend unter meinem Fuß,
Betret’ ich wohlbedächtig dieser Gipfel Saum,
Entlassend meiner Wolke Tragwerk, die mich sanft
An klaren Tagen über Land und Meer geführt.
Sie lös’t sich langsam, nicht zerstiebend, von mir ab.
Nach Osten strebt die Masse mit geballtem Zug,
Ihr strebt das Auge staunend in Bewundrung nach.
Sie teilt sich wandelnd, wogenhaft, veränderlich.
Doch will sich’s modeln. Ja! das Auge trügt mich nicht! –
Auf sonnbeglänzten Pfühlen herrlich hingestreckt,
Zwar riesenhaft, ein göttergleiches Fraungebild,
Ich seh’s! Junonen ähnlich, Leda’n, Helenen,
Wie majestätisch lieblich im Auge schwankt.
Ach! schon verrückt sich’s! Formlos breit und aufgetürmt,
Ruht es in Osten, fernen Eisgebirgen gleich,
Und spiegelt blendend flüchtiger Tage großen Sinn.
Doch mir umschwebt ein zarter lichter Nebelstreif
Noch Brust und Stirn, erheiternd, kühl und schmeichelhaft.
Nun steigt es leicht und zaudernd hoch und höher auf,
Fügt sich zusammen. – Täuscht mich ein entzückend Bild,
Als jugenderstes, längstentbehrtes höchstes Gut?
Des tiefsten Herzens frühste Schätze quellen auf,
Aurorens Liebe, leichten Schwungs, bezeichnet’s mir,
Den schnellempfundnen, ersten, kaum verstandnen Blick,
Der, festgehalten, überglänzte jeden Schatz.
Wie Seelenschönheit steigert sich die holde Form,
Löst sich nicht auf, erhebt sich in den Äther hin,
Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort.
Akt V – Palast. Mitternacht – Auftritt der Sorge
Vier graue Weiber nähern sich dem Palast des uralt gewordenen Faust: Der Mangel, die Schuld, die Not schaffen es nicht hineinzugelangen, die Sorge aber schleicht sich durchs Schlüsselloch ein.
Goethe wusste offenbar um die Macht der Sorge, ob nun aus eigener Erfahrung oder anteilnehmender Beobachtung. Ein Mediziner unserer Zeit machte Goethe das Kompliment, „alle klassischen Lehrbuchsymptome, die den depressiven Seelenzustand kennzeichnen“, seien hier, in der Ansprache der Sorge, versammelt.
Wen ich einmal mir besitze
Dem ist alle Welt nichts nütze,
Ewiges Düstre steigt herunter,
Sonne geht nicht auf noch unter,
Bei vollkommnen äußern Sinnen
Wohnen Finsternisse drinnen.
Und er weiß von allen Schätzen
Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er verhungert in der Fülle,
Sei es Wonne sei es Plage,
Schiebt ers zu dem andern Tage,
Ist der Zukunft nur gewärtig,
Und so wird er niemals fertig.
Soll er gehen, soll er kommen,
Der Entschluß ist ihm genommen;
Auf gebahnten Weges Mitte
Wankt er tastend halbe Schritte.
Er verliert sich immer tiefer,
Siehet alle Dinge schiefer,
Sich und andre lästig drückend,
Atem holend und erstickend;
Nicht erstickt und ohne Leben,
Nicht verzweifelnd, nicht ergeben.
So ein unaufhaltsam Rollen
Schmerzlich Lassen, widrig Sollen,
Bald befreien, bald erdrücken,
Halber Schlaf und schlecht Erquicken
Heftet ihn an seine Stelle
Und bereitet ihn zur Hölle.
Akt V – Großer Vorhof des Palastes – Fausts letzte Worte
Eine unheimliche und in mehrfacher Hinsicht irritierende Szene. Der uralte Faust träumt noch in seinen allerletzten Minuten von gigantischen Landgewinnungs-Projekten und ist so ungeduldig und unruhig wie schon je: Wenn dies nicht gelänge, und zwar bald, dann wäre auch alles Vorangegangene umsonst und vertan. Aber die Arbeiter, denen der Erblindete aufgeregt zuhört, graben nicht für das erträumte paradiesische Land, sondern sein Grab. Irritierend auch, dass der Greis, der eben noch die Arbeiter autoritär und skrupellos in Frondienst nehmen ließ, jetzt von „Gemeindrang“ und von „freiem Volk auf freiem Grund“ faselt. Und irritierend zuletzt die Beugung des zwischen Mephisto und Faust geschlossenen Paktes. „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!“, das war ja die Verabredung gewesen. Jetzt, in diesem Augenblick, sagt Faust aber keineswegs „Verweile doch, du bist so schön“, sondern spricht von einem „Vorgefühl“, er malt sich aus, wie es wäre, wenn dieses letzte verzweifelte Projekt gelänge – und muss trotzdem sterben.
Alles ist im Zwielicht – und großartig und überwältigend.
Ein Sumpf zieht am Gebirge hin,
Verpestet alles schon Errungne;
Den faulen Pfuhl auch abzuziehn,
Das Letzte wär’ das Höchsterrungne.
Eröffn’ ich Räume vielen Millionen,
Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.
Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Herde
Sogleich behaglich auf der neusten Erde,
Gleich angesiedelt an des Hügels Kraft,
Den aufgewälzt kühn-emsige Völkerschaft.
Im Innern hier ein paradiesisch Land,
Da rase draußen Flut bis auf zum Rand,
Und wie sie nascht gewaltsam einzuschießen,
Gemeindrang eilt die Lücke zu verschließen.
Ja diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Äonen untergehn. –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.
Akt V – Grablegung – Mephistos Schlussmonolog
Vor vielen Jahren und Jahrzehnten haben wir die Szene Grablegung immer wieder von einer knackenden und knisternden Langspielplatte abgespielt. In meiner Studenten-WG lachten wir Tränen und bewunderten Gustav Gründgens’ Darstellungskunst. Ich lache immer noch – und staune über das Gewagte dieser Szene.
Das muss einem erst einmal einfallen, das muss man sich erst einmal trauen. Die himmlischen Mächte kommen herab, um Fausts unsterbliche Seele zu holen und zu retten. Der altgediente Teufel erlebt diesen Akt der Gnade als erotische Irritation: „Sie wenden sich – Von hinten anzusehen!“
Doch wie? – wo sind sie hingezogen?
Unmündiges Volk du hast mich überrascht,
Sind mit der Beute himmelwärts entflogen;
Drum haben sie an dieser Gruft genascht!
Mir ist ein großer einziger Schatz entwendet,
Die hohe Seele die sich mir verpfändet
Die haben sie mir pfiffig weggepascht.
Bei wem soll ich mich nun beklagen?
Wer schafft mir mein erworbenes Recht?
Du bist getäuscht in deinen alten Tagen,
Du hasts verdient, es geht dir grimmig schlecht.
Ich habe schimpflich mißgehandelt,
Ein großer Aufwand, schmählich! ist vertan,
Gemein Gelüst, absurde Liebschaft wandelt
Den ausgepichten Teufel an.
Und hat mit diesem kindisch-tollen Ding
Der Klugerfahrne sich beschäftigt,
So ist fürwahr die Torheit nicht gering
Die seiner sich am Schluß bemächtigt.
Akt V – Bergschluchten – Chorus Mysticus
Sie dürfen nicht fehlen, die allerletzten Zeilen des großen Werkes, an dem Johann Wolfgang von Goethe ein Leben lang arbeitete: die Zeilen 12104 bis 12111.
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird’s Ereignis;
Das Unbeschreibliche
Hier ist es getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.
Den Hinweis auf das Buch „Der heilkundige Dichter: Goethe und die Medizin“ von Frank Nager verdanke ich der bekannten „Faust“-Ausgabe von Albrecht Schöne, an deren Textgestalt ich mich insgesamt orientiert habe.