Das achte Streichquartett von Dmitri Schostakowitsch – ein Vortrag
Den folgenden Vortrag mit Live-Musik (vom Bondarenko-Quartett, in dem ich die Bratsche spiele) habe ich wohl ein Dutzend Mal gehalten – hier die Fassung für die Mozart-Gesellschaft meiner Heimatstadt. – Die Übernahmen aus dem Schostakowitsch- und Stalin-Schrifttum weise ich nicht im einzelnen nach, eine Liste der verwendeten Literatur findet sich am Schluss.
Schostakowitsch in der Mozart-Gesellschaft – ob das gut geht? Diese beiden Komponisten haben nun wirklich auf verschiedenen Planeten gelebt. Aber das Stück, um das es heute geht, ist ganz, ganz große Musik, die obendrein einen faszinierenden – einen schrecklichen, aber faszinierenden – zeitgeschichtlichen Hintergrund hat. Wenn Sie aber zu denen gehören, die Schostakowitschs Musik hassen, so hassen Sie Schostakowitsch am Ende dieses Abends hoffentlich auf eine intelligentere Weise.
[Vorstellung der vier Musiker]
Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch schrieb 15 Streichquartette; geplant waren 24 Streichquartette in allen Tonarten, also ein loser Zyklus so wie etwa Bachs „Wohltemperiertes Klavier“. (Tatsächlich wiederholen sich bei den vollendeten Quartetten die Tonarten nicht.) Kurz vor seinem Tod sagte Schostakowitsch allerdings zu Dmitri Tsyganov, dem ersten Geiger des Beethoven-Quartetts, das bis auf das erste und das letzte alle seine Quartett-Kompositionen uraufgeführt hatte: „Weißt du, Mitja, die euch versprochenen 24 Quartette werde ich nicht mehr schaffen.“ Wir spielen jetzt die Nr. 8, das genau die Mittelstellung unter den vollendeten 15 Quartetten einnimmt. Es ist populärer als alle anderen Schostakowitsch-Quartette zusammen und überhaupt eines der populärsten Werke der Kammermusik; es ist, bis jetzt, das in diesem Jahrtausend in dieser Stadt meistaufgeführte Streichquartett überhaupt. Also: Schostakowitsch, Streichquartett Nr. 8 c-Moll op. 110, erst einmal alle fünf Sätze im Zusammenhang: Largo – Allegro molto – Allegretto – Largo – Largo. Die Sätze gehen attacca, ohne Pausen, ineinander über.
[Musik – das Quartett op. 110 als Ganzes]
Diese Musik wurde 1960 geschrieben, in Gohrisch, einem kleinen Ort in der Sächsischen Schweiz. Heute gibt es dort, deswegen, ein Festival, die Internationalen Schostakowitsch-Tage, und man kann sich den Platz, an dem Schostakowitsch komponierte, ansehen.
Schostakowitsch besucht von Gohrisch aus Dresden, dem man die Verwüstungen durch den Zweiten Weltkrieg immer noch ansieht, und gibt sich erschüttert. (Am Ende seines Lebens sagte er einem Vertrauten: „Wenn ich zurückblicke, sehe ich nichts als Ruinen. Nur Berge von Leichen.“) Das Quartett trägt denn auch die Widmung: „Im Gedenken an die Opfer des Faschismus und des Krieges“ – mit diesem Hintergrund im Kopf habe ich das Stück jahrelang gehört und gespielt. Etwa so:
Sirenen: [Musik – 3. Satz, 5 Takte vor Ziffer 44 bis 46]
Flugzeuge und Bomben: [Musik – 4. Satz, Beginn]
Kämpfe: [Musik – 2. Satz, Beginn]
Totentanz: [Musik – 3. Satz, Ziffer 39]
Totenklage: [Musik – 5. Satz, Ziffer 70 bis 72]
Also: Musik „im Gedenken an die Opfer des Faschismus und des Krieges“? Ja, aber ein grundsätzlich anderer, ergänzender Blick auf diese Musik ist möglich – und wohl auch nötig. Ich sammle einige Indizien für diese grundsätzlich andere Sichtweise.
Indiz 1: Weder das Deckblatt noch die erste Partiturseite des Autographs, der Handschrift, enthalten diese Widmung, die nur in der gedruckten Fassung auftaucht.
Indiz 2: Das Quartett beginnt mit Schostakowitschs Signatur, dem musikalischen Anagramm D-S-C-H. (Diese Töne finden sich übrigens auch auf Schostakowitschs Grabstein.) Die Tonfolge wird zu Beginn imitatorisch behandelt, das Cello und die zweite Geige spielen das Original, wir anderen spielen die Melodie in anderen Tonlagen: [Musik – 1. Satz, Beginn]
Indiz 3: Dieses musikalische Anagramm D-S-C-H ist omnipräsent im ganzen Stück, z.B. im Scherzo [Musik – 3. Satz, Ziffer 36 bis 38]. Es erscheint insgesamt 134 mal (in der Originalgestalt, transponierte Varianten und Stimmverdopplungen nicht mitgerechnet).
Indiz 4: Im ersten Satz gibt es ein Zitat aus der ersten Sinfonie: [Musik – 1. Sinfonie (von CD)]. Der herausgehobene Ton der ersten Geige, das ist der Beginn des Trompetenmotivs am Anfang der ersten Sinfonie, auch der anschließende Kontrapunkt wird zitiert, hier im Tempo sehr zurückgenommen – eine ferne Erinnerung über den Zeitraum von 35 Jahren hinweg: [Musik – 1. Satz, 1 1/2 Takte vor Ziffer 1 bis 2]. – Die Sinfonie op. 10 von 1925, zitiert im Streichquartett op. 110 von 1960. Die triumphale Uraufführung seiner Ersten war für den damals 19-jährigen Komponisten seine Geburtsstunde als Komponist. Zeit seines Lebens feierte Schostakowitsch diesen Tag als seinen eigentlichen Geburtstag. In seinem Quartett erinnert er also mit Hilfe eines musikalischen Zitats an ein für ihn persönlich höchst bedeutsames Erlebnis.
Indizien, die stutzig machen: zum einen die ständige Präsenz der musikalischen Signatur, als ob jemand immer „Ich“ rufen würde; zum anderen dieses Zitat einer eigenen Komposition, und zwar einer, die in der eigenen Biographie eine entscheidende Rolle spielt. Eine Vermutung nimmt Gestalt an: Es geht um das Erlebnis des Krieges und darum, was Menschen anderen Menschen mit Gewalt antun können. Es geht aber auch, und viel mehr noch, um den Komponisten selbst, es geht um die Person Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch.
Über das ganze Stück ist ein Netz von Zitaten gespannt, vor allem Zitaten aus eigenen Werken. Einigen dieser Zitate gehe ich jetzt nach: Da ist z.B. das „jüdische“ Thema aus dem zweiten Klaviertrio, eine Erinnerung an den früh verstorbenen Iwan Sollertinski, einen seiner allerbesten Freunde, dem das Trio gewidmet gewesen war: [Musik – 2. Satz, Ziffer 33 bis Schluss]. Der Ausdruck „jüdisches Thema“ stammt von Schostakowitsch selbst: „Wenn man von musikalischen Einflüssen spricht, so hat die jüdische Volksmusik mich am stärksten beeindruckt. Ich werde nicht müde, mich an ihr zu begeistern. Sie kann fröhlich erscheinen und in Wirklichkeit tief tragisch sein. Fast immer ist es ein Lachen durch Tränen. Damit kommt die jüdische Volksmusik meiner Vorstellung, wie Musik sein soll, sehr nahe.“ Diese Melodie, im Trio und im Quartett, ist ein musikalisches Statement gegen den dem Komponisten sein Leben lang bitter verhassten Antisemitismus. Antisemitismus aber ist eine durchgehende Konstante der russischen Geschichte, egal welcher Zeit und welcher Gesellschaftsform. Noch im sogenannten „Tauwetter“ der Chrustschow-Ära hat Schostakowitsch dies erfahren, als die Politiker die Aufführung seiner 13. Sinfonie verhindern wollten. (Schostakowitsch hatte einen Text Jewgeni Jewtuschenkos komponiert, der an die Mordaktion an 33.000 Juden in Babi Jar, einer Schlucht bei Kiew, erinnert.)
Zurück zum achten Streichquartett, zum Versuch, Schostakowitschs Zitate zu verstehen: die rührende Melodie des Cellos im vierten Satz stammt aus der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“: [Musik – 4. Satz, Ziffer 61 bis 63]. Nach der Uraufführung im Januar 1934 war Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ zwei Jahre lang in Leningrad und Moskau mit außergewöhnlichem Erfolg gespielt worden. Am 26. Januar 1936 besuchte Stalin mit anderen hochrangigen Politikern die Aufführung der Oper. In den von Wolkow herausgegebenen „Memoiren“ erzählt Schostakowitsch: „Am 28. Januar 1936 gingen wir in Archangelsk auf den Bahnhof, um die neueste ,Prawda‘ zu kaufen. Ich durchblättere sie und finde auf der dritten Seite den Artikel ,Chaos statt Musik‘. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Er ist vielleicht der denkwürdigste in meinem ganzen Leben. Der Artikel auf der dritten Prawda-Seite veränderte ein für allemal meine ganze Existenz. Er trug keine Unterschrift, war also als redaktionseigener Artikel gedruckt. Das heißt, er verkündete die Meinung der Partei. In Wirklichkeit also die Stalins, und das wog bedeutend mehr. Alle wandten sich von mir ab. Jetzt wusste jeder, dass ich dran glauben musste.“ Der Verriss war immens und von katastrophaler Wirkung. Alle Aufführungen wurden gestoppt. Ein Kritiker nach dem anderen tat Abbitte und stolperte über seine vorherigen Meinungen. Schostakowitsch musste mit seiner Verhaftung rechnen und schlief einige Monate in seinen Kleidern mit einem gepackten Koffer unter dem Bett. In den Memoiren heißt es: „Warten auf die Exekution ist eines der Themen, die mich mein Leben hindurch gemartert haben. Viele Seiten meiner Musik sprechen davon.“ – Der eine oder die andere hier im Publikum hat vielleicht Julian Barnes’ Roman „Der Lärm der Zeit“ aus dem Jahr 2016 gelesen. Barnes lässt Schostakowitsch am Aufzug seines Wohnhauses stehen und dort auf die Geheimpolizei warten – das ist wohl eine dichterische Freiheit.
Als Dreißigjähriger ist Schostakowitsch künstlerisch und menschlich eine gebrochene Existenz. Der Schatten Stalins verdunkelt alles. Schostakowitsch will aber überleben, er will seine Familie in Sicherheit wissen – und er will komponieren… Er hat auf unterschiedliche Weise auf die Repressionen reagiert, auch, durchaus, mit Anpassung. Seine bereits fertiggestellte vierte Sinfonie zieht er zurück, das Stück wird erst 25 Jahre später uraufgeführt, also nach dem achten Quartett. Statt dessen legt er eine fünfte Sinfonie vor, die „schöpferische Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechte Kritik“. In dieser Sinfonie vermeidet er das, was Anstoß erregen könnte, sie wird ein triumphaler Erfolg und bringt sie ihm die Anerkennung der offiziellen Kritik zurück. Und das erste Hauptthema auch dieser Sinfonie kommt im Quartett vor, auch an diesen Moment seines Leben und seiner Karriere erinnert er sich 1960 in Gohrisch. Aber dieses Thema erfährt eine entschiedene Verwandlung und wird zu, jedenfalls in meinem Ohren, zu einem musikalischen Sinnbild der Einsamkeit.
Ich greife jetzt, um ein ohrenfälliges Beispiel für kompositorische Anpassung zu geben, dem Gang der Ereignisse vor und springe für kurze Zeit in das Jahr 1949, zu dem den Großen Führer Stalin glorifizierenden Oratorium „Lied der Wälder“. Der erste Satz heißt „Nach vollbrachtem Kampf“. Im Kremlpalast schreitet der große Führer auf eine Karte zu und steckt Fähnchen, um die Flächen der Wiederaufforstung neu festzulegen. [Musik, Lied der Wälder“, Beginn des ersten Satzes (von CD)] Es ist leicht, sich darüber lustig zu machen – aber diese Musik ist nicht uninspiriert und handwerklich perfekt gemacht. Ich selbst höre sie gern – habe aber auch den unschätzbaren Vorteil, dass ich den Text nicht verstehe! Musik ohne Ecken und Kanten, schön, aber zahnlos. Es ist ebenso leicht, sich nicht nur ästhetisch, sondern moralisch darüber zu erheben und Schostakowitsch einen „Mitläufer“ zu nennen oder einen, der sich dem System allzu bereitwillig anpasst. Aber: Niemand von uns hat in einem System wie dem stalinistischen gelebt. Dazu zwei Musiker als Zeitzeugen, der Geiger David Oistrach und der Dirigent Kurt Sanderling.
David Oistrach (der gerade den Internationalen Eugène-Ysaye-Wettbewerb in Brüssel – heute Königin-Elisabeth-Wettbewerb – gewonnen hatte, also bereits durchaus einen Namen hatte) erinnert sich: „Ich weiß noch zu gut, wie jedermann in Moskau Nacht für Nacht befürchten musste, verhaftet zu werden. Damals, 1937, blieben nur unsere Wohnung und die gegenüber von den Verhaftungen verschont, alle anderen Bewohner sind Gott weiß wohin verschleppt worden. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was wir durchgemacht haben – jede Nacht zu lauschen und zu warten, ob sie an die Tür pochen, ob ein Auto vor der Tür anhält… Eines Nachts sahen wir den Wagen des KGB auf der anderen Straßenseite stehen. Wohin wollten sie? Zu uns oder zu den Nachbarn? Unten ging die Haustür und der Aufzug setzte sich in Bewegung, stand auf unserer Etage still. Wie gelähmt horchten wir auf die Schritte. Vor welcher Tür machten sie Halt? Eine Ewigkeit verging. Dann hörten wir sie an einer anderen Wohnungstür klingeln. Seit diesem Abend weiß ich, dass ich kein Kämpfer bin.“
Der Dirigent und bedeutende Schostakowitsch-Interpret Kurt Sanderling, der viele Jahre in Leningrad gearbeitet hat, hat das Leben dort geschildert: „Von dem Nachbarn meines Onkels, mit dem ich viele Abende Schach gespielt habe, hieß es eines Tages: Der ist gestern Abend verhaftet worden. Das hat Schrecken ausgelöst. Ich habe, nachdem ich bei meinen Verwandten ausgezogen war, die ganze Zeit bis 1941 dort zu Mittag gegessen und wenn ich mich danach verabschiedete und nach Hause ging, haben wir uns gefragt: ,Sehen wir uns morgen noch wieder?‘ Wir haben es nicht ausgesprochen, aber gedacht haben es alle. Es gab eine furchtbare Angst, weil es unberechenbar war. Wenn ich in Deutschland zur Nazi-Zeit gelebt habe und ich nicht Kommunist und nicht Sozialdemokrat und nicht Jude war, so konnte ich eigentlich damit rechnen, morgen in meinem Bett aufzuwachen. In der Sowjetunion gab es überhaupt keine Spielregeln. Prominenteste Kommunisten, Nicht-Kommunisten, normale Ingenieure, Arbeiter, wenn auch sie seltener, wurden plötzlich verhaftet.“
Teilweise wurde der Terror nach Quoten festgesetzt: Örtliche Politkommissare setzten für ein bestimmtes Gebiet Zahlen der hinzurichtenden Opfer ein. Da die Zahlen nach Moskau gemeldet werden mussten, bemühten sie sich, in vorauseilendem Gehorsam, auf ihre Todeslisten lieber ein paar Leute mehr als zu wenig zu setzen. (Vgl. das berühmte angebliche Stalin-Zitat: „Der Tod eines einzelnen Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen nur eine Statistik.“) In der ersten Säuberungswelle wurden politische Gegner aus den Bürgerkriegsjahren hingerichtet, in der zweiten Welle diejenigen, die diese verhaftet hatten, in der dritten Welle diejenigen, die die Positionen der Opfer der zweiten Welle eingenommen hatten. Wassilij Blochin, genannt: der Mann mit der Lederschürze, einer der fleißigsten Henker Stalins, soll etwa 50.000 Hinrichtungen eigenhändig vollzogen haben, darunter viele seiner früheren Kameraden, viele Künstler und Intellektuelle.
Alle waren verdächtig, jeder belauerte jeden, jeder konnte, sollte, musste jeden zur Anzeige bringen, und sei es den eigenen Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Genossen, Kollegen oder Freund. Es war Wahnsinn, aber mit Methode, es war Terror, aber mit System. Alle sollten in Abhängigkeit und Angst nur dem einen großen Führer und Ziel dienen. Am 27.4.1935 wurde das Strafrecht dahingehend geändert, dass für Kinder von 12. Lebensjahr an die Todesstrafe verhängt werden konnte.
Der Terror kam Schostakowitsch persönlich nahe. Der Mann von Schostakowitschs Schwester wurde plötzlich verhaftet, sie selbst nach Sibirien verschickt. Ein sehr guter Freund und Gönner schon aus Studientagen, der hoch dekorierte Marschall Tuchatschewski, wurde hingerichtet. Mischa Kwadri, dem er die Erste Sinfonie gewidmet hatte, wurde als erster seiner Freunde verhaftet und erschossen. Schostakowitsch selbst erhielt eine Vorladung zum NKWD. Das Verhör dauerte Stunden, dann wurde Schostakowitsch nach Hause geschickt und nahm Abschied von der Familie und den Freunden. Er fand sich, mit seinem Koffer, zur Fortsetzung des Verhörs ein; dieses fand nur deshalb nicht statt, weil der verhörende Offizier seinerseits wenige Stunden zuvor erschossen worden war.
Schostakowitsch ist kein Dissident gewesen – bekennende Dissidenten waren tot. Soweit das Regime es zuließ, lebte er in innerer Emigration. Wie stark seine Distanz zur politischen Führung war, lässt sich – auch mithilfe der Memoiren – nicht wirklich beurteilen. Was allerdings oft vergessen wird: Schostakowitsch teilte durchaus manche Ideen und Überzeugungen der sowjetischen Musikkultur. Aus seinen Memoiren (in denen er sich ohne Druck von außen äußerte): „Ich brauche Musik, in der der Komponist aufrichtig seine Gedanken ausdrückt. Und zwar so, dass die größtmögliche Zahl anständiger Menschen im eigenen Land und in anderen Ländern diese Musik verstehen und akzeptieren kann. Darin besteht für mich der Sinn des Komponierens.“ Und an anderer Stelle: „Bei uns ist man, anders als im Westen, gewohnt, die Frage zu stellen: ,Was wollte der Komponist mit diesem Musikstück sagen? Was wollte er erklären?‘ Solche Fragen sind natürlich naiv. Doch trotz ihrer Naivität und ihrer Unreife haben sie ihre Berechtigung. Ich würde ihnen noch andere, neue hinzufügen. Zum Beispiel: Kann Musik gegen das Böse kämpfen?“
Zurück zur Frage „Wie hat Schostakowitsch auf die Repressionen reagiert?“ – Schostakowitsch ist – trotz seiner Anpassungsleistungen – kein regimetreuer Komponist. Immer wieder unterläuft er auf subtile Weise die Erwartungen und schreibt die Musik, die er will. 1944 antwortet er auf die Frage, ob er eine Symphonie schreiben wolle, die den künftigen Sieg besinge: „Ja, ich denke schon an die nächste, die Symphonie Nr. 9. Falls ich einen entsprechenden Text finde, möchte ich sie nicht nur für Orchester komponieren, sondern auch für Chor und Solisten. Ich fürchte jedoch, man könnte mich dann unbescheidener Analogien verdächtigen.“
Die tatsächlich komponierte Musik klingt dann so: [Musik – Exposition der 9. Sinfonie (von CD)]. Ich hatte als Jugendlicher eine Platte mit diesem Stück und dachte mir damals gar nichts Besonderes bei dieser Musik. Beim Wiederhören nach 40 Jahren habe ich mir notiert: eine Art „Symphonie classique“, knapp gefasst, in eher spielerischem Tonfall, eher absolute als programmatisch gebundene Musik, eher tönendes Spiel als Bekenntnis, klassizistische Züge, vor allem im ersten Satz, unpathetisch, wohl auch: Verweigerung von Pathos. Eine Musik, die gerade durch politisch ist, dass sie sich weigert, politisch zu sein.
Die Reaktionen waren entsprechend irritiert; schockiert oder gar gereizt war vor allem der politische Apparat der Sowjetunion; Stalin soll nach der Uraufführung aufs äußerste erzürnt gewesen sein. Schostakowitsch düpierte aber auch westliche Kritiker, von denen viele wieder eine pathetische Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg erwartet hatten. Einer der amerikanischen Fans von Anfang an war Leonard Bernstein, der das zweite Thema unnachahmlich charakterisierte: Mickey Mouse conducts a Marching Band.
Wenig später folgt – nach dem Prawda-Artikel von 1936 – die zweite Groß-Katastrophe in Schostakowitschs künstlerischer Biographie. In den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs griff die Partei in der Sowjetunion verstärkt in das Kunst- und Kulturleben ein. Wieder ist es ein Opernbesuch Stalins, der brutale Repressionen zur Folge hat: Eine Oper von Vano Muradeli wird zum Alibi für einen folgenreichen Beschluss. Die Resolution des ZK der KPdSU „Über die Oper ,Die große Freundschaft‘“ geißelt u.a. die „Atonalität, Dissonanz und Disharmonie“ vor allem auch der Musik Prokofieff und Schostakowitschs. An der Spitze dieser ideologischen Offensive steht schon seit 1946 der Sekretär des ZK der KPdSU, Andrei Schdanow. In seinen Auftritten fordert er die völlige Ausschaltung aller westlichen Kultureinflüsse und verurteilt auch nur die geringste Abweichung von den offiziellen Grundsätzen der Kulturpolitik. Für einige Jahre regelt die „Schdanowschtschina“ das sowjetische Musikleben. Schostakowitsch und viele andere müssen sich öffentlich entschuldigen und Besserung geloben.
Komponieren für die Schublade – auch eine Möglichkeit, auf die Versuche, die Komponisten an die Leine zu nehmen. Zum Zeitpunkt der ZK-Resolution hat Schostakowitsch gerade sein erstes Violinkonzert op. 77 vollendet. Der Komponist hat Angst, dass das Stück den Anforderungen Schdanows nicht genügt. Er lässt es sieben Jahre lang in der Schublade. Dann überarbeitet er es geringfügig, damit es eine neue Opuszahl, op. 99, erhalten kann, und bringt es 1956 zur Uraufführung. – Dieses Stück ist eines der größten Werke des Komponisten. Die bei Schostakowitsch fast allgegenwärtige Bitterkeit ist in ihm in einer unglaublichen Süße der Empfindung aufgehoben. [Musik – aus der Passacaglia des Violinkonzerts (von CD)]
Schostakowitschs Musik wird nun kaum noch gespielt; er verliert sein Lehramt, muss sich mit der Komposition von Filmmusiken durchschlagen. Obwohl ein Russe durch und durch, fühlt er sich in diesen Jahren als Gefangener im eigenen Land. Im achten Streichquartett erklingt, als musikalischer Reflex dieser Zeit, das Lied „Erschöpft von schwerer Gefangenschaft“ [Musik – 2. Satz, Ziffer 48].
Erst ab 1949 wird Schostakowitschs Leben allmählich leichter, weil Stalin ihn als Aushängeschild sowjetischer Kultur braucht und ihn auf eine Amerikatournee schickt. 1953 dann: Stalins Tod – endlich. In den Jahren nach Stalins Tod werden nach und nach die Regeln für die Kulturschaffenden gelockert. Aber wieviel Vertrauen kann man haben, wenn man jahrelang inmitten des Terrors gelebt hat? Schostakowitsch ist in dieser Zeit wie gelähmt und komponiert fast nichts.
Unter Chrustschow dann das sogenannte „Tauwetter“. Chrustschow hält im Februar 1956 im Anschluss an den XX. Parteitag der KPdSU seine „Geheimrede“. Darin äußert er massive Kritik am Personenkult um Stalin und an den stalinistischen Verbrechen. Aber diese Versuche, das Erbe Stalins zu überwinden, waren in vielem oberflächlich und verlogen. Chruschtschow war an Dutzenden von Terrormaßnahmen selbst beteiligt gewesen, seinen Aufstieg verdankte er in nicht wenigen Stationen der Exekution von Rivalen, deren Positionen er ohne Skrupel übernahm. Immerhin: Die bei seiner Machtübernahme und danach ausgesonderten Personen landeten nicht mehr in der Hinrichtungskammer, sondern in der politischen Bedeutungslosigkeit.
1964 wird Chrustschow gestürzt. In der Breschnew-Ära ist es mit dem Tauwetter vorbei. Es wird wieder kalt in Russland… Wir alle haben das Ende des Prager Frühlings miterlebt: 1968 marschieren die Truppen des Warschauer Pakts in der tschechischen Hauptstadt ein.
1966 feiert Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch seinen 60. Geburtstag. Photographien zeigen einen vor der Zeit gealterten Mann. Schostakowitsch leidet an Lähmungserscheinungen der linken Hand (eine Katastrophe für jemanden, der eine Karriere als Konzertpianist in Erwägung hatte ziehen können) und an verschiedenen anderen kleinen und großen Krankheiten. Viele seiner Werke beschäftigen sich nun mit dem immer rascher heraneilenden Tod: „Angst vor dem Tod ist vielleicht das stärkste Gefühl, das ein Mensch haben kann. Ich denke manchmal, dass es ein tieferes, intensiveres Gefühl wohl nicht gibt. Die Ironie liegt darin, dass gerade unter dem Druck der Todesangst Menschen große Gedichte, Prosa, Musik schaffen.“
Aber es sind nicht allein die Todesangst, das Alter, die Krankheiten, das Schwinden der Kräfte, die Schostakowitschs letzte Jahre verdüstern. Die Stalinisten erheben immer lauter ihre Stimme. Auf dem XXIII. Parteitag der KPdSU, 1966, erinnert sich Michael Scholochow (der Autor des „Stillen Don“, der im Vorjahr den Literaturnobelpreis erhalten hatte). Er schwärmt sehnsüchtig von den Zeiten, als sich die Gerichte bei der Urteilsfindung nach dem „revolutionären Bewusstsein richteten“ und sich nicht auf die „zersplitterten Paragraphen des Strafgesetzbuches stützten“ und als man ohne viel Federlesens „Werwölfe“ an die Wand stellte.
Der Neostalinismus kann Schostakowitsch nicht mehr gefährlich werden. Trotzdem bleibt der Komponist vorsichtig. Seine „Memoiren“ dürfen erst nach seinem Tod veröffentlicht werden: Der alte und kranke Mann glaubt eine dritte Attacke nicht mehr ertragen zu können. Heute liest man diese „Memoiren“ als Zeichen des erlebten Grauens: „Ich trage schwer an den bitteren Erfahrungen meines grauen und unglücklichen Lebens.“ 1975 stirbt Schostakowitsch. Das Buch ist bis heute in Russland nicht veröffentlicht.
Nach diesem Ausblick kehren wir wieder zurück in das Jahr 1960, nach Gohrisch in die Sächsische Schweiz, zum achten Quartett. Schostakowitsch ist auf Einladung der DDR-Regierung in Gohrisch, er soll die Musik zu einem deutsch-sowjetischen Film namens „Fünf Tage – Fünf Nächte“ komponieren, der 1945 im zerstörten Dresden spielt. Schostakowitsch ist gequält nach Deutschland gekommen: Er soll Sekretär des Komponistenverbandes der UdSSR werden – das ist mit dem Parteieintritt verbunden, was Schostakowitsch ungeheuer belastet. Er wandert durch die Stadt Dresden, in der die Spuren des Krieges noch deutlich sichtbar sind. Erinnerungen werden wach. Aber zurück in Gohrisch, in der „unerhört schönen Gegend“, weicht der Druck von ihm. Er vernachlässigt die Filmmusik, wegen derer er gekommen ist. In einem ungeheuren Produktionsschub schreibt er in nur drei Tagen das Quartett, die Musik bricht förmlich aus ihm heraus.
Wenige Tage später schreibt er einen Brief an seinen Freund Isaak Glikman, in dem er die autobiographische Bedeutung des Quartetts enthüllt. (Dieser Brief wird aber erst in unserem Jahrhundert veröffentlicht.) Darin erklärt er grimmig: Das Stück ist „unnütz und ideologisch verwerflich“. Die Widmung „Im Gedenken an die Opfer des Faschismus und des Krieges“ – die ja keineswegs ideologisch verwerflich ist! – ist offenbar auf offiziellen Druck hineingenommen worden, oder aber in vorauseilendem Gehorsam durch Schostakowitsch selbst. Man hätte, schreibt Schostakowitsch in seinem Brief, auch auf den Einband schreiben können: „Gewidmet dem Andenken des Komponisten dieses Quartetts.“ Schostakowitschs Sohn Maxim sagt über Opus 110: „Er hat in dem Quartett all die Stücke zitiert, zu denen er durch leidvolle Erfahrungen gelangt ist. Alles ist miteinander verflochten. Das Stück ist ein autobiographisches Dokument.“ Ein klingender Blick zurück auf das eigene Leben, klingende Autobiographie – ein seltenes Phänomen.
[Musik – 8. Streichquartett, 5. Satz]
Ein Programmheftartikel zu Schostakowitschs achtem Quartett findet sich hier, und hier geht es zu einigen wenigen ergänzenden Anmerkungen und den Nachweisen.