Haibun der Woche 28 – 10. Juli 2022
Unter Schafen
Die Schafe, die die Salzwiesen der Halbinsel Eiderstedt zu Tausenden und Abertausenden bewohnen, sind oft recht hübsch, aber doch wohl außerordentlich dumm. Wenn man sich ihnen mit dem Fahrrad auf dem dafür ausgewiesenen Weg nähert, blicken sie erstaunt und rühren sich nicht vom Fleck. Man versucht, sie durch Klingeln und eindringliche Zurufe zu verscheuchen, sie jedoch machen einige verwirrte Schritte in die falsche Richtung und verhindern so jede Möglichkeit einer friedlichen Passage. Erst nachdem sie den Radfahrer und sich selbst zu Fall gebracht haben, humpeln sie mit vorwurfsvollen Blicken zur Seite.
Irritierend sind auch die menschenähnlichen Stimmen, mit denen sie sich miteinander verständigen. Erst gestern erschrak ich fürchterlich, als mir die Stimme – genau die Stimme! – eines ehemaligen Vorgesetzten der hiesigen Landesschulbehörde ein tadelndes Määh! zurief.
Übrigens muss man alle paar hundert Meter auf den Landesschutzdeichwegen anhalten und ein Gatter passieren, das die eine Herde von der anderen absondert. Die Trennung kann zu einem Romeo-und-Julia-Effekt führen. Jedenfalls konnte ich zwei Tiere im Teenager-Alter beobachten (beide zufällig mit der Nummer 25, freilich in verschiedenen Farben), die sich über den Zaun hinweg über Minuten reglos und offenbar schwer verliebt in die Augen schauten.
Das Salzwiesenlamm,
niedlich und anmutig – so
lecker als Kotlett.
Wolfgang Volpers
Das ist natürlich die Perspektive eines unverbesserlichen Karnivoren. Hoffen wir, dass dieses entzückende Lamm die Chance hat, als schwarzes Schaf aufzuwachsen:
Das schwarze Lämmchen:
Es weiß noch ahnt wohl nicht, was
aus ihm werden soll.
Wolfgang Volpers
Auf der Suche nach einem seriösen Gegengewicht zu diesen beiden Gedichten fand ich im Netz das folgende Haiku von Nicole Isermann:
Schafe mit Ausblick.
Als stünde die Welt ganz still.
Moment der Absolutheit.
(Fotos: W.V.)
Birgit Wendling hat diesen Beitrag kommentiert: „Das Haibun beschreibt zwei Sturköpfe, von denen keiner weichen will. Ich vermute, das Schaf sieht sich als angestammten Bewohner des Deichs an seinem festem Wohnort und dich als uneingeladen hereinplatzenden Durchreisenden, der wenigstens höflich auszuweichen hat. Stell dir vor, ein Schaf liefe plötzlich durch dein Wohnzimmer und erwartete von dir auch noch, dass du aufstehst und ausweichst…“ – Und hier geht es zu einigen wenigen Bemerkungen zur Bach-Arie „Schafe können sicher weiden“.