„Ich arbeite so still für mich (nach Goethes erlauchtem Vorbild)“
IV. 
Der Titel „Metamorphosen“ (Anmerkungen)

  • Die zweite „Metamorphosensinfonie“ Martin Scherbers:  Es gelang mir bis jetzt nicht, mich der „Metamorphosensinfonik“ Martin Scherbers (1907 – 1974) anzunähern; die ihm und seinem Schaffen gewidmete Website scheint teilweise inaktiv zu sein, meine Bitten um Partituren blieben jedenfalls unbeantwortet (http://www.martin-scherber.de/index.html, abgerufen am 22.4.2019 um 9.00 Uhr). – Es gibt einschlägige drei Werke: Die erste „Metamorphosensinfonie“ ist 1937/38, die zweite 1951/52, die dritte 1952/55 entstanden.
  • eine konsequente Metamorphosen-Musik: Henning Kunze, dessen Aufsatz „Die Metamorphose als Wesenselement der Musik“ unter www.martin-scherber.de/musik-metamorphose online gestellt ist. Dort heißt es weiter: „Eine Metamor­phose wird dort erkennbar, wo Übergangsformen auftreten, so daß der Wandlungs­prozeß selber in Erscheinung tritt, nicht bloß das Verwandelte. Dieses hat Goethe insbesondere für die pflanzlichen Blattorgane herausgearbeitet, die vor allem deshalb eine allmähliche Umwandlung besonders schön zeigen, weil sie sich vom Keimling bis zur Blüte nacheinander am Sproß herausbilden und so den Übergang, die Umstim­mung der Pflanze von der vegetativen zur reproduktiven Phase in ihrer Gestalt widerspiegeln können. So wäre als ein erster wesentlicher Gesichtspunkt festzuhalten, daß bei der Metamorphose im Unterschied zur Variation der Verwandlungsvorgang selbst deutlich werden muß. Wenn die Kunst, wie Goethe meint, auf denselben Gesetzen beruht wie der Naturprozeß, ja diesen sogar fortsetzt, dann liegt eine ihrer Aufgaben darin, das gewöhnlich hinter den vielen Variationen eines Typus verborgen bleibende Wandlungsgeschehen, die eigentliche Metamorphose, sinnlich in Erschei­nung treten zu lassen.“
  • Deutung von Timothy L. Jackson: Jacksons Deutung gebe ich zunächst wieder mit Hilfe von Barry Gilliam (Gilliam, Magier, S. 197 – Gilliam bezieht sich hier auf einen Aufsatz von Timothy L. Jackson, den er in seinem Buch „Richard Strauss – New Perspectives on the Composer and his Work“ veröffentlicht hatte, s.u.). Jackson selbst schreibt u.a.: „According to the classical metamorphosis tradition, by discovering the divine within, man could metamorphose into the godly. […] But in Strauss’ instrumental treatment of the classical theme in the Metamorphosen, the outcome of transformation through self-knowledge is inverted. In Strauss’ essentially tragic view, self-knowledge reveals the bestial, not the divine, in man. Thus, in the Metamorphosen, the end result of metamorphosis is not man’s attainment of the divine but his decent into bestiality.“ (Jackson, S. 195) Während man die Formulierung „tragic view“ durchaus annehmen kann, gibt es keinen Anlass anzunehmen, dass Strauss’ mit den Metamorphosen „a philosophical work“ (ebd.) komponiert habe. In den Ovidschen „Metamorphosen“ ist die Verwandlung eines Menschen in einen Gott selten, der Dichter bevorzugt Tiere, Steine, Bäume, Wasser. Dass es unsinnig ist, Goethes Gedicht „Niemand wird sich selber kennen“ (das sich im Skizzenbuch in der Nähe der Metamorphosen findet) zur Interpretation heranzuziehen, habe ich bereits oben darzulegen versucht. Vgl. hierzu aber auch Danuser, S. 261: „Was die Beziehung zu Goethe anbetrifft, so hat wohl die gerade während der Kriegsjahre intensive Beschäftigung Straussens mit dem Œuvre des Dichters ihren Niederschlag auch in der Eintragung zweier Xenien ins Skizzenbuch von 1944 gefunden, doch verweist nichts von ihrem Gehalt, der trotz prinzipiell unübersteigbarer Erkenntnisgrenzen seiner selbst und der Welt einen lebenspraktischen Optimismus kündet und dem alten Strauss deshalb in jener Zeit der Bedrohung und Ungewißheit hilfreich erscheinen mochte, auf den Begriff der Metamorphose.“
  • verweigerte selbst den Nächstvertrauten jede Auskunft: nach Krause, S. 419.
  • ein bestimmtes Grundsujet: Kech, S. 28.
  • Hofmannsthal legt sämtlichen Protagonisten: Auch diesen Hinweis verdanke ich Adrian Kech (S. 28 f.).
  • in einem Brief: Briefwechsel Strauss – Hofmannsthal, S. 134 f., im sogenannten Ariadne-Brief von Mitte Juli 1911. – Hofmannsthal zeigt sich, neben dem Wunsch, seine dichterischen Absichten zu erklären, recht empfindlich: Er „will es offen sagen, daß mich Ihre sehr dürftigen und kühlen Worte über die fertige ‚Ariadne‘ […] ein bißchen verdrossen haben.“ (S. 132) – Der Dichter hat seine Eigeninterpretation im Vorspiel der 1916 uraufgeführten Zweitfassung mit Hilfe der Figur des Komponisten ergänzt. – Vgl. auch Gilliam, Ariadne, S. 75 ff.
  • im Feuilleton oder im Programmheft: Auch im wissenschaftlichen Schrifttum wird zwischen den beiden Begriffen nicht immer genügend getrennt. Die von Gernot Gruber und Oswald Panagl herausgegebene Aufsatzsammlung „Mythos – Metamorphosen – Metaphysik“ (s.u.) entstand im Nachgang zu einem Symposion gleichen Titels, das sich überwiegend mit der „Kooperation zwischen dem Dichter [Hofmannsthal] und dem Komponisten“ und Aspekten einzelner Werke beschäftigt (S. VII). In diesem Zusammenhang spielt die Idee der Verwandlung bzw. der „allomatischen Verwandlung“ eine bedeutende Rolle und wird in einigen Beiträgen sehr aufschlussreich untersucht. Der Titel des – lesenswerten – Buches ist allerdings irreführend: Der Begriff „Metamorphose“ (bzw. sein Plural) spielt im Text kaum eine Rolle und kommt fast nicht vor, die Metamorphosen werden nicht erwähnt.
  • diese Gleichsetzung: „Verwandlung“ und „Metamorphose“ mögen sich durchaus überschneiden; hier geht es mir nicht eine absolute Bestimmung der beiden Begriffe, sondern darum, mit welchem Hintergrund und Verständnis sie Strauss für seine Titelgebung verwendete.  
  • His command of Goethe: Youmans, S. 64.
  • erzählt die Schwiegertochter: nach Jackson, S. 199.
  • erzählt der Enkel: nach Youmans, S. 68. – Strauss notiert Mitte/Ende Juli 1940 in den „Späten Aufzeichnungen“: „Seit einem Monat habe ich begonnen, Göthes Gesamtausgabe (die 40 Bände) von Anfang an (ohne Auslassungen, höchstens vielleicht die mir unverständliche Farbenlehre) durchzulesen!“ (S. 151)
  • erlauchten Vorbild: Briefwechsel Strauss-Schuh, S. 61, Brief vom 23. Januar 1944: „Ich arbeite so still für mich (nach Goethes erlauchtem Vorbild).“
  • Die Annahme, dass Strauss wusste: Für Dieter Borchmeyer hängt die Tatsache, dass Strauss für sein Stück „den Begriff der Metamorphose demjenigen der Variation vorzieht“, „vor allem damit zusammen, daß sie nicht von einem anfänglich exponierten festen Thema ausgeht, sondern daß der aus Beethovens ‚marcia funebre‘ hergeleitete c-moll-Hauptgedanke nach den Worten von Stephan Kohler ‚als unbewußter, zunächst nicht erkennbarer Bezugspunkt gewählt‘ wird, ‚der seine Identität erst nach und nach enthüllt‘“. Diese Argumentation scheint mir problematisch: 1) Auch wenn Strauss vom Prinzip der Variation Gebrauch macht, passt der Formbegriff „Variation“ für die individuelle Formgebung seiner Komposition überhaupt nicht und ist wohl von ihm auch nie in Erwägung gezogen worden.  2) Der Begriff „Hauptgedanke“ ist irreführend: Es gibt noch weitere, mindestens gleichberechtigte Themen.  3) Die allmähliche Enthüllung einer Identität ist etwas anderes als eine Metamorphose.  4) Strauss’ Titel lautet „Metamorphosen“ und nicht „Metamorphose“. Es geht um mehrere Umwandlungsprozesse, nicht um einen einzelnen (vgl. dazu auch Kap. IV).
  • einige auffällige biographische Parallelen: vgl. Youmans, S. 68. Beispiele u.a.: Goethe und Strauss „lived long, relentlessly active lives, motivated by a love of hard work and a determination to develop their creative gifts through consistent activity“, „showed in their works a pronounced, recurring autobiographical tendency, while at the same time censoring outsiders’ knowledge of their private views with a carefully constructed public persona“. „And not to underestimated is the importance of profound devotion to an oddball wife, known for her lack of culture, bad manners (or at least innocence of courtly decorum), and preoccupation with domestic details.“
  • Hans Kloft: S. 82 f.
  • zum Begriff der Metamorphose: In seiner umfangreichen Darstellung von „Goethes Metamorphosenlehre“ (siehe Literaturverzeichnis) erklärt Olaf Breidbach den Begriff (bei Goethe) zwar letztlich zu einem ästhetischen, der aber im Bereich der Naturforschung angewendet werde: „Der Begriff der Metamorphose ist nicht einfach ein Begriff der Naturforschung, er ist ein umfassender Strukturbegriff, der im Bereich der Naturforschung erläutert wird.“ Der zentrale Begriff der Gestalt werde von Goethe verstanden „als in allen Transformationen der Individuationen existenten und so gerade in diesen Transformationen realisierten Prozess“ (Breidbach, S. 302). 
  • Alle Gestalten sind ähnlich und keine gleichet der andern: zit. nach der Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Band 1, S. 199.
  • daß bei verschiedenen Pflanzen: zit. nach: Wyder, S. 62.
  • Modell und Schlüssel: in einem Brief an Charlotte von Stein vom 9. Juni 1787, zit. nach: Wyder, S. 65: „Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu, kann man alsdann noch Pflanzen ins Unermeßliche erfinden“.
  • ein besonders schönes Beispiel: Ross, S. 376. – Ross, der ja in seinem Überblick über die Musik des 20. Jahrhunderts nicht persönliche Analysen zu allen von ihm genannten Werken leisten kann, schließt sich an die – von mir kritisch gesehene – Interpretation von Timothy L. Jackson an und neigt wie dieser zu Überinterpretationen, z.B. der letzten drei Takte: „Wenn man meint, der tiefste Grund sei erreicht, geht es noch zwei lange Schritte abwärts – ein tiefes G, dann ein noch tieferes C; als ob die Sonnenaufgangsfanfare von Also sprach Zarathustra im Krebs gespielt würde, die Naturtonreihe sich zum Fundament des Anfangs zurückspult. Es gibt kein ‚Licht in der Nacht‘, nur Nacht.“ – Ein weiteres Beispiel: „Aus einer zweitaktigen Zelle erwächst die rund dreißigminütige Komposition wie ein Wurzel- oder Baumgeflecht.“ (Künzig, S. 6)
  • von bewegender Ausdrucksstärke: Benjamin Senz konnte in seinem Buch „Musik – Ausdruck – Emotion. Psychologische Grundlagen und Kompositionstechniken am Beispiel der Trauer“ (siehe Literaturverzeichnis) die Metamorphosen neben Brahms’ Deutschem Requiem als Paradigma einer Trauermusik behandeln. 
  • Ernst Krauses Formel: Krause, S. 11.