Das gelbe Fieber

Gedanken zu einer Neuinszenierung des „Barbier von Sevilla“ an der Staatsoper Hannover

Der Barbier von Sevilla, zweiter Akt, erste Szene. Bartolo, allein, räsoniert mürrisch und misstrauisch über Jüngstvergangenes, über die erste gerade noch so eben überstandene Welle von Intrigen und Gegenintrigen. Nun bringen Beaumarchais-Sterbini-Rossini mit einer Dramaturgie, die ans Steine-Setzen zu Beginn einer Partie Mühle erinnert, immer eine Figur mehr ins Spiel: zum zweiten Angriff.

Plus eins, Almaviva/Lindoro. Er zeigt, als Musiklehrer und Kollege Basilios verkleidet, das Briefchen, das Rosina ihm geschrieben hat. Er wolle nichts weiter, als Bartolo helfen; wenn man Rosina erkläre, er habe dieses Briefchen von einer anderen Flamme des Grafen, dann werde sie sicher gekränkt und enttäuscht einer Heirat mit Bartolo zustimmen. – Plus eins, Rosina. Der nun inszenierte Gesangsunterricht ermöglicht hautnäheren Kontakt der beiden Liebenden (und dient einmal mehr dazu, die gesangstechnischen Kunststücke der Primadonna dem Publikum zu präsentieren). – Plus eins, Figaro. Angeblich kommt er zur fälligen Rasur Bartolos, will aber eigentlich nur dessen Aufmerksamkeit von Rosina und Almaviva/Lindoro ablenken. – Plus eins, Basilio. Er kommt wahrscheinlich – man wird es nicht mehr erfahren -, um mit Bartolo Einzelheiten der bevorstehenden Hochzeit zu besprechen.

Nun steht das Spiel zur Entscheidung. Alles hängt an Basilio: Wird er bleiben und freiwillig oder unfreiwillig die neue Attacke entlarven? Was kann die Katastrophe verhindern (oder zumindest noch einmal hinauszögern)? Das, was überall in dieser Oper ein Motor der Handlung und ein innerer Antrieb der Figuren ist: das Geld.

Man suggeriert dem Basilio, er sei krank, leide am „gelben Fieber“, oder habe zumindest daran zu leiden. Die Therapie ist einfach: Der Graf wirft Basilio eine Geldbörse zu: „Greifen Sie zu Arzneien, dass Sie nicht zugrunde gehn!“ Der „Kranke“ versteht nichts, aber bei ihm wirkt die „Macht des Geldes“ immer, überall und unbedingt zuverlässig: Basilio fügt sich und – geht.

Basilio ist nur das deutlichste Beispiel für die fieberhafte Goldgier, die die Personen, die die Handlung motiviert. Bei Beaumarchais, im Schauspiel, rechtfertigt er seine Bestechlichkeit offenherzig: „In schwierig zu beurteilenden Fällen scheint mir eine Geldbörse immer ein unwiderlegliches Argument zu sein.“ Und später, als er den Notar zur Hochzeit Bartolo bringen will, ihn aber zur Hochzeit Almavivas tatsächlich bringt, entscheidet eine weitere Börse (in der Oper, zur qualvollen Wahl gestellt, ein Ring oder zwei Pistolenkugeln). Basilio, das Gold in der Hand wiegend: „Wissen Sie, wenn ich einmal mein Wort gegeben habe, müssen es sehr schwerwiegende Gründe sein…!“

Doch nicht nur Don Basilio kriecht „im Staub vor jedem Taler“: den Tanz ums goldene Kalb tanzen sie alle. Im Theaterstück darf Bartolo noch sagen: „Was bedeutet mir Geld! Zum Glück behalte ich es, aber glauben Sie, das sei für mich entscheidend?“ In der Oper möchte er sich mit den Geldsäcken trösten, die ihm im Tresor noch bleiben, doch da… – Ist das Gold für ihn ein Sedativ, so für Figaro ein Anregungsmittel, fast ein Aphrodisiakum: „Strahlt auf mich der Glanz des Goldes, fühl ich mich wie umgestaltet, und ein kühnes Leben waltet hoch in mir voll Mut und Kraft.“ Was für Kniffe das Gold aus dem unermüdlichen Figaro herauslockt, darüber kann der einfältige Graf nur staunen: „Lass sie sehen, die Macht des Goldes, was sie noch aus dir gestaltet!“ Seine Handlungen bestehen ganz überwiegend im Geldverteilen: Geld für die musikalischen Handlanger des Beginns, Geld für Figaro, für Basilio,  für ihn noch ein Ring… Warum ein Ring? Das Geld, der Treibstoff, mit dem er das Fahrzeug seiner Interessen immer wieder in Gang setzt, scheint ihm auszugehen: eine Energiekrise, die er nur durch die Jagd auf die Mitgift der Rosina lösen kann. Schwer zu sagen, wie groß der Anteil von „Liebe“ da noch sein kann, auch bei ihr, die doch endlich und um jeden Preis ihren so gar nicht goldenen Käfig verlassen möchte.

Nichts Besonderes, mag man einwenden, Anspielungen auf die Herrschaft des Goldes sind ein elementarer Bestandteil der älteren Komödientradition. Natürlich ist Doktor Bartolo ein Abkömmling des dottore der commedia dell’arte, der neben Geiz nur noch greisenhaft-eigensinnige Lüsternheit besitzt. Auch die Farcen, die Beaumarchais um 1763 für das Jahrmarktstheater als Fingerübungen für die Figaro-Stücke schrieb, enthalten Bemerkungen und Witzeleien über das Geld geradezu als Topos. Im Barbier aber – und das ist im Libretto dem Theaterstück gegenüber keineswegs gemildert – ist das Gold zu einer beherrschenden Macht avanciert. „Gold, mein Gott, Gold: das ist die Vorbedingung jeder Intrige!“, muss Figaro dem begriffsstutzigen Almaviva erklären. Unter der „Macht des Goldes“ nähern sich die in der commedia noch streng in ihren Eigenschaften unterschiedenen Charaktere einander an: Die Typen lösen sich auf. Wie wenig die Gegenmacht der Liebe dem „gelben Fieber“ der Geldsucht Einhalt zu gebieten in der Lage ist, wird dann die Fortsetzung, wird der tolle Tag von Figaros Hochzeit offenbaren.

Im Spiel der Intrigen und Gegenintrigen, die von keinem Beteiligten überblickt und beherrscht werden, in einem von Zufälligkeiten bestimmten Imbroglio, in der Planlosigkeit des Geschehens bleibt das „gelbe Fieber“ eine berechenbare Konstante. Situationen ergeben sich weniger aus den Aktionen der Personen oder werden von deren Eigenheiten mitbestimmt, sie ergeben sich eher vom Zufall spielerisch inszeniert, wobei der „Macht des Goldes“ noch der größte Einfluss zukommt. Dass in solchem Spiel individuelle Charaktere untergehen, entspricht aber dem Wesen des Rossinischen Musiktheaters, dessen musikalischer Impuls über Einzelheiten des Textes hinwegdrängt zu einem eben von musikalischen Gesetzmäßigkeiten diktierten Gestalten. Seine Vernachlässigung individueller Charaktere, konkreter Textaussagen, spezifischer Situationen hat der Komponist humoristisch gerechtfertigt: „Das Geld und die Zeit, die man für die Komposition bewilligte, waren so homöopathisch, dass ich kaum Zeit hatte, das sogenannte Textbuch zu lesen.“

In diesem Satz tritt er wieder auf, der Götze Geld, diesmal nicht nur als Lenker der Geschöpfe, sondern auch der des Schöpfers selbst. Der Glanz des Goldes setzt nicht nur Figaros Kreativität in Gang, sondern auch den Rossinischen Musikautomaten, der ebenso mühelos Einfall um Einfall produziert. Automat deshalb, weil Rossinis Musik in ihrer starren Rhythmik, der Symmetrie des Periodenbaus, der Ähnlichkeit zahlreicher Stücke untereinander als mechanisch bekrittelt wurde. Und doch gewinnt die wendige Mechanik in den inspirierten Stücken nicht zuletzt des Barbiers von Sevilla unüberhörbar Leben. Der Lebenskünstler, den der Ganz des Goldes erst kreativ macht, wie hätte dieses Thema den Gioacchino Rossini nicht interessieren, nicht inspirieren sollen, wie hätte er vom gelben Fieber verschont bleiben können.

(Bei der Produktion des „Barbiers von Sevilla“ der Staatsoper Hannover in der Spielzeit 1986/87 war ich als Regieassistent dabei. Die damalige Aufführung setzte in der Tat einen Hauptakzent auf die „Macht des Goldes“. Die Kritik verriss die Inszenierung, empfahl aber die Lektüre des „klugen Programmheftartikels“…)