Die Rätsel der „Turandot“

 

(Das 1994 im Laaber Verlag erschienene Buch mit „Analytischen Untersuchungen zu Giacomo Puccinis „‚Turandot'“ – eine überarbeitete Fassung meiner bei Prof. Hellmut Kühn begonnenen und bei Prof. Günter Katzenberger abgeschlossenen Dissertation – ist, soweit ich die aktuelle Literatur überblicke, ein Vierteljahrhundert nach seinem Erscheinen weder überholt noch überflüssig. Alle die, die sich für die chinesische Prinzession ernsthaft interessieren, finden auf dieser Homepage das Inhaltsverzeichnis und – gleich hier folgend – das erste Kapitel, sowie – als Beispiel für das Dutzend Programmheftartikel, das ich mittlerweile verfasst habe – hier einen Programmheftartikel für die Komische Oper Berlin aus dem Jahre 1998. Ein Exemplar des Buches stelle ich auf Anfrage per Mail gern zur Verfügung.)

Giacomo Puccinis Oper „Turandot“ ist das letzte und wohl ambitionierteste Werk eines der populärsten und meistgespielten Komponisten ihres Genres. Ihre Musik rechnet allgemein zum Bedeutendsten im Gesamtwerk Puccinis, ihr Text behandelt einen in mythische Schichten zurückreichenden Motivkomplex, der ihr zugrundeliegende Stoff fand weit vor und weit nach Puccini literarische und musikalische Gestaltung. Wenn sie auch hinsichtlich der Auf­führungszahlen nicht seinen erfolgreichsten Werken – der in den Jahren um 1900 entstandenen Trias „La Boheme“, „Tosca“ und „Madama Butterfly“ – zurechnet, gehört sie doch von 1926, dem Jahr der Uraufführung, an zum festen Kern des Repertoires. (Gerade die achtziger Jahre brachten im deutschen Sprachraum wieder eine Fülle von Neuinszenierungen.)
Diese Popularität, diese Bedeutung haben – soweit heute abzusehen ist – noch keine hinreichende wissenschaftliche Würdigung zur Konsequenz gehabt. Während zu „La Boheme“ und zu „Tosca“ seit langem ausführliche Un­tersuchungen vorliegen1 und nun auch die Opern des „Trittico“ zum Gegen­stand einer eingehenden Analyse gemacht wurden², hat erst Jürgen Maehder mit seinen Untersuchungen insbesondere zum Fragmentcharakter und zu mit dem von Franco Alfano nachkomponierten Schluß der Oper zusammenhän­genden Fragen die Aufmerksamkeit auf „Turandot“ gelenkt.³ Die – ja im Umfang beschränkten – Untersuchungen in den großen Puccini-Monographien⁴ können hier ebensowenig Ersatz bieten wie die populäre Puccini-Literatur, welch letztere sich ohnehin mit ermüdender Regelmäßigkeit auf Fragen der Exotik des Gegenstandes und der musikalischen Gestaltung einerseits, auf fragwürdige Spekulationen zum Symbolgehalt des Turandot-Mythos anderer­seits zu beschränken scheint⁵).

Dieses Desinteresse mutet um so unbegreiflicher an, als von Anbeginn an in allen Äußerungen zu „Turandot“ deutliche Unsicherheiten in der Einschätzung und Deutung der Oper zu bemerken sind. In aller Regel setzen diese Unsicherheiten bei der Interpretation der Titelfigur an – einer Frau, die anders als alle früheren Puccini-Heroinen sich (zunächst) nicht als wie auch immer beschaffene Partnerin des Mannes versteht. Künstler, Musikwissenschaftler, das Publikum haben diese Figur (und damit die gesamte Oper) immer wieder anders gesehen. Sexualpathologisch: Puccinis Oper ist die großangelegte Beschreibung einer Frigiditätstherapie (die in der Aroe „In questa reggia“ gegebene Motivation der grausamen Freierprobe ist in dieser Form nur in Puccini/Adami/Simonis Version des Stoffes zu finden.⁶ Sodann auch philosophisch: Sie demonstriere die Grundgedanken des Taoismus, also z.B. die Überwindung des Starken durch das Schwache.⁷ Mythologisch: Turandot Trägerin urzeitlicher Lebensgeheimnisse, deren Enträtselung nur den Besten gelingt. (Mit einer ergänzenden Variante: „Turandot“ als Dokument der Auflösung gynäkokratischer Verhältnisse.)⁸ Operngeschichtlich: Puccinis Prinzessin nimmt an einer düster-gigantischen Leichenfeier der gesamten Gattung teil.⁹ Politisch zum ersten: Turandot, die Männerfeindin, als Vorkämpferin emanzipatorischen Gedankenguts.¹⁰ Oder, politisch zum zweiten: Turandot, die Kaisertochter, als Symbol der fatalerweise von sich selbst entfremdeten Macht.¹¹ – Fast fünfzig Jahre nach der Uraufführung scheint Leonardo Pinzauti zu resignieren: »Der Brennpunkt ist in der Tat die Unmöglichkeit, die poetische Daseinsberechtigung der rätselhaften Prinzessin zu verstehen.« ¹²
Eine weitere Konstante insbesondere der nicht im engeren Sinn wissen­schaftlichen Literatur ist die Beurteilung der „Turandot“ aus der Sicht der drei populärsten Puccini-Opern, deren Erfolg für die letzte Oper des Komponisten fast ein Verhängnis darstellt. Bereits 1925 urteilt Michele Lessona, „Turandot“ sei im Hinblick auf die technische Meisterschaft und die künstlerischen Absichten des Komponisten ein ehrenwerter Versuch, jedoch: »Die Oper hat nicht die emotionale und expressive Kraft von Puccinis anderen Arbeiten für das Theater und bleibt unvergleichlich weit hinter ‚Manon‘ und ‚Boheme‘ zurück.« ¹³
Ganz ähnlich unwillig, sich auf die veränderte Konzeption Puccinis einzulassen, ist der Kritiker Andrea della Corte in einer Rezension der Uraufführung:
»Die ’neue Frau‘ wurde vom Sänger der Mimi und der Manon also kaum geahnt. Und mit diesen poetischen, sanften Figuren bleibt der Name Puccinis verbunden.«¹⁴
Die drei erwähnten Erfolgsopern haben das Bild des Komponisten so ge­formt, daß die anderen Werke, ganz gegen dessen eigene Einschätzung, wie Nebenproduktionen wirken. So erschien zum Zentenarium seiner Geburt eine Flut von Aufsätzen und Artikeln, die im Titel schon die – inzwischen bis zum Überdruß strapazierte – Formel vom „Musiker der kleinen Dinge“ (von Puccinis gern zitierter Formulierung von den „cose piccole“ ausgehend) führten und dementsprechend die „Große Oper“ „Turandot“ allenfalls in zweiter Linie würdigten. Aus solcher Perspektive erscheint Puccinis letzte Oper als untypisch und dem Komponisten nicht wesensgemäß. Jedoch wird damit das Gesamtwerk auf einen Teil reduziert, der zwar den größten Publikumserfolg gehabt hat, aber doch nur ein Teil bleibt: Die offensichtlich veränderten Interessen Puccinis in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg werden damit völlig ignoriert.

An diesem Punkt (der Einschätzung und Bewertung der Oper „Turandot“ aus der Perspektive der drei erfolgreichsten Werke Puccinis) möchte die vorliegende Arbeit ansetzen. Die Individualität des Werkes soll also deutlich gemacht werden im Vergleich mit den drei von Luigi Illica und Giuseppe Giaoosa getexteten Opern „La Boheme“, „Tosca“ und „Madama Butterfly“. Diese werden – Voraussetzung des vergleichenden Verfahrens – in zwei Kapiteln („Von ‚Manon‘ bis ‚Butterfly“‚) als Opern des „Illica/Giacosa-Typs“ zusam­menfassend beschrieben. Der Vergleich selbst muß, um sinnvoll und im gege­benen Rahmen durchführbar zu sein, auf bestimmte Aspekte gerichtet werden: Diese werden im folgenden Kapitel im Rückgriff auf Gozzis „Turandotte“, die Puccinis Oper eine Grundlage gab, ermittelt.
Nach Volker Klotz müssen Theatermacher, wenn sie »die Theatergänger für sich einnehmen« wollen, »die Auswahl unter allen erdenklichen nach­ahmbaren Gegenständen unter dem Gesichtspunkt des gegenwärtigen ge­meinsamen Interesses treffen«¹⁵ Und tatsächlich schreibt Puccini – der sich selbst primär als Mann des Theaters sah¹⁶) – am 20.10.1920 an den
„Turandot“-Librettisten Giuseppe Adami:
» Und ‚Turandot‘ schläft? Um so mehr denke ich an sie, und um o mehr
scheint mir dies ein Su1et zu sein, wie man es heute braucht? «¹⁷
Die Frage, warum Puccini ein aller greifbaren Aktualität und allem zeitge­nössischen Interesse wie auch allem bisherigen eigenen Opernschaffen doch so offensichtlich fern liegendes Sujet wählt, und von diesem – auch nach in­tensivem Nachdenken – behauptet, es sei eines, »wie man es heute braucht«, birgt ein wesentliches Rätsel der „Turandot“. In der Entscheidung für diesen Stoff werden – im Zusammenhang dieser Arbeit – Indizien für die veränderten Intentionen des Komponisten aufgespürt. Von hier aus werden Hypothesen über die Natur dieser Veränderungen aufgestellt, deren Ausformung und Nachweis dann den weiteren Gang der Untersuchung bestimmen. Andere, gleichzeitige Neufassungen des Turandot-Stoffes werden herangezogen, zeit­genössische literarische Entwicklungen werden gesichtet, um Einflüsse auf die Gestalt des Librettos nachzuweisen. Die Konsequenzen der neuartigen Stoffwahl, Textgestalt und Dramaturgie für die musikalische Gestaltung werden dann in (exemplarischen) musikalischen Analysen nachgewiesen. So entsteht – hofft der Verfasser – ein Gesamtbild, das in wesentlichen Zügen ein deutliches Korrektiv zu etablierten Interpretationsmustern darstellt.
Es mag nicht überflüssig sein, darauf hinzuweisen, daß eine derartige Unter­suchung sich nicht auf musikalische Fragestellungen im engeren Sinn beschränken kann. Wenn wir – mit Carl Dahlhaus – unsere Untersuchung als Versuch verstehen, »sowohl im musikalischen als auch im sprachlichen Text einer Oper die Momente zu entdecken und zu akzentuieren, die für die Struktur des Werkes als Drama und Theaterereignis konstitutiv sind«¹⁸ be­deutet das, daß über etwa eine Analyse des Notentextes weit hinausgegangen werden muß. Daß die Arbeit nun, der Chronologie des Schaffensprozesses folgend, bei der Stoffwahl einsetzt, ist auch in diesem Sinn unabdingbare Voraussetzung.

 

Anmerkungen und Nachweise

  1. Maisch, Walter, Puccinis musikalische Formgebung, untersucht an der Oper „La Bohème“, Er­langen 1934
    Winterhoff, Hans-Jürgen, Analytische Untersuchungen zu Puccinis „Tosca“, Regensburg 1973
  2. Leukel, Jürgen J., Studien zu Puccinis „II Trittico“, München-Salzburg 1983
  3. Maehder, Jürgen, insbes.: Studien zum Fragmentcharakter von Giacomo Puccinis „Turandot“,
    in: Analecta Musicologica XXII, Laaber 1984
  4. Z.B. Camer, Mosco, Puccini, A Critical Biography, London 1958
  5. Während die Exotismus-Problematik im Zusammenhang dieser Arbeit nur am Rande berührt wird, ist ihr der Nachweis dieser Fragwürdigkeit ein wichtiges Anliegen: vgl. u.a. Anm. 120 im VIII. Kapitel
  6. Schreiber, Kikeriki, S. 19
  7. Revers, Analytische Betrachtungen, S. 349 und 351
  8. Snook, Fremdsprache  Märchen, ohne Seitenzahl
  9. Titone, Vissi d’arte, 102 ff.
  10. Grewe, Rätsel, S. 3 ff.
  11. Ebd.
  12. Pinzauti, Puccini, S. 177 („II centro focale è davvero l’impossibilità di captare le ragioni poetiche dell’enigmatica principessa“.)
  13. Lessona, Turandot, S. 245 („L’opera, dunque, non ha le virtù emotive ed espressive di altri lavori teatrali di Puccini e rimane ad incommensurabile distanza da Manon e Bohème.“)
  14. Zit. nach: Gara, Carteggi, S. 564 f. („La ’nuova donna‘ fu dunque appena intravista dal cantore di Mimi e di Manon. Ed è a queste poetiche, gentili persone che resta affidato il nome di Puccini“.)
  15. Klotz, Dramaturgie, S. 20 f.
  16. Das wohl wichtigste Zeugnis ist der Brief an den Librettisten Adami aus dem Jahre 1920: „Ho quel grande difetto di scriverla solamente quando i miei burattini si muovono sulla scena. Potessi essere un sinfonico puro (?). Ingannerei il mio tempo e il mio pubblico. Ma io? nacqui tanti anni fa, tanti, troppi quasi un secolo… e il Dio santo mi tocco col dita mignolo e mi disse: ‚Scrivi per il teatro: bada bene – solo per il teatro – e ho seguito il supremo consiglio‘.“ (Adami, Epistolario, S. 259 f.)
  17. Adami, Epistolario, S. 263 („E ‚Turandot‘ dorme? Quanto più ci penso e più mi sembra un soggetto come ci vuole oggi e che a me vada a pennello.“)
  18. Dahlhaus, Methodik, S. 518