Haiku der Woche 6 – 5. Februar 2023

Ein Studienfreund arbeitet zur Zeit an einem finnischen Opernhaus, er hilft dort, die Oper „Lentävä Hollantilainen“ von Richard Wagner zur Aufführung zu bringen. Ab und an telefonieren wir, und er erzählt mir von dem so ganz anderen Leben dort oben. Ich selbst bin noch nie in Finnland gewesen, das ja nicht nur viel nördlicher, sondern auch viel östlicher als die Gegend liegt, in der ich dies schreibe. (Eine gerade Linie von Helsinki nach Süden führt nicht nach Berlin, sondern zum ukrainischen Lwiw.) Wenn es hier dämmert, hat er, der Studienfreund, bereits einige Stunden im Dunkeln gesessen. Von Helsinki nach Norden übrigens bis zur Landesgrenze mit Norwegen sind es wohl 1400 Kilometer, an 50000 Seen vorbei, ganz  überwiegend durch flaches Land.

Und dann die Sprache, die uns so gar keinen Anhaltspunkt bietet. Das finnische Wort  für „Blumenkohl“ ist „kukkakaali“, das mag noch angehen, aber das Wort für „Universität“ ist „yliopisto“, und die bekannteste Mozart-Oper heißt „Taikahuilo“.

Natürlich bin ich auf die Suche nach finnischen Haiku gegangen. Da sind zum Beispiel die wunderbaren Gedichte des „Polarnacht“-Zyklus von Inter-Mari Aikio, bei denen es sich freilich um Übertragungen nordsamischer Originale handelt. Hier also eine finnische und eine deutsche Übersetzung dreier nordsamischer Haiku (einer japanischen Gedichtform).

 

varjoton varjo
l
umisella polulla
s
eisahtaa nyt pimeys

 

sininen haukka
k
eräilee jääkiteitä
k
utoo pesää tuulelle

 

alaston oksa
v
etää sammalta peitoksi
n
ukahtaa tuulen kehtoon

 

 

Schattenloser Schatten
Auf schneebedecktem Pfad
Die Dunkelheit hält inne

 

Der blaue Falke
Sammelt Eiskristalle
Webt dem Wind ein Nest

 

Der nackte Ast
Ordnet das Moos
Schläft in der Wiege des Windes ein

 

Inter-Mari Aikio

 

 

Hier spricht ein Finne – kein anderer als der Sänger und Darsteller der Titelfigur in „Lentävä Hollantilainen“ – die finnische Version dieser drei Haiku:

 

 

Die finnischen Übersetzungen der nordsamischen Originale stammen von Inter-Mari Aikio selbst. Die deutschen Übersetzungen durch Anna Lenz, Georgina Willms und die Gruppe Bie fand ich auf der Webpräsenz „lyrikline“; ein Band mit Gedichten von Inter-Mari Aikio ist im Verlag Hans Schiler erschienen.