Klösterliche Leiden und Leidenschaften
Giacomo Puccinis „Suor Angelica“

Als Suor Angelica bei der Londoner Erstaufführung des Trittico nach nur zwei Aufführungen mit der Begründung abgesetzt wurde, ihre „Religiosität“ entspräche nicht dem englischen Geschmack, wandte Puccini ein: „The thing is that the opera didn’t have time to find its way into the public’s ears – because the story is really one of passion and it’s only the environment which is religious.“ (Einige Briefe Puccinis an Sybil Seligmann liegen nur in der englischen Übersetzung ihres Sohnes Vincent in dessen Biographie „Puccini among friends“ vor.) Die Leidenschaft, von der Puccini hier spricht, lebt, wenn der Vorhang aufgeht, nur noch in der Erinnerung. Angelica hat durch eine unstandesgemäße Liebe „das weiße Wappen“ ihrer Familie beschmutzt. Man fürchtete einen Skandal und befahl Angelica ins Kloster. Was von ihrer gewaltsam zerstörten Liebe noch lebt, wird von der Regelstrenge des Klosterlebens unterdrückt. I desideri sono i fiori dei vivi, singt Angelica und meint damit nicht das Leben ihrer Mitschwestern. Die gesamte erste Hälfte der Oper schildert die kleinen Pflichten, Freuden und Leiden der Nonnen, die ihnen den Traum vom Leben draußen vergessen helfen. Die musikalische Entsprechung dieses klösterlichen Lebenskorsetts ist ein konstruiert naiver Reduktionsstil, eine Mischung aus Hornquintenschlichtheit, eigenartig starren motivischen Formeln und Elementen wie quasi liturgischen Wendungen oder psalmodierenden Rezitationen. Das erste längere Solo der Angelica – das erwähnte Arioso I desideri – baut einer Skalenmelodik auf, die vom Standpunkt des Melomanen wenig inspiriert scheinen mag, die aber dramaturgisch genau die unterdrückte Gefühlswelt der Angelica trifft. Einen subjektiven Ton gewinnt die Musik erst bei der Beschreibung von Angelicas Todessehnsucht.

Die Strenge der klösterlichen Lebensführung ist das Mittel, die Leidenschaften zu binden und zu fesseln. Die Erinnerung an ihren Sohn, die Frucht der verbotenen Liebe, kann das Kloster allerdings nicht in Angelica auslöschen. Als sie Besuch von ihrer Tante erhält, einer Inkarnation von Dünkel und Bigotterie, verrät Angelica, dass ihr ganzes Denken immer nur ihrem Kind galt und gilt (Creatura mia lontana! È questa la parola che invoco da sett’anni!) und verrät damit den Ersatzcharakter ihrer frommen Übungen. Im Gespräch zwischen ihr und der Zia principessa wird das Göttliche zum Kampfmittel. Angelica erpresst eine Auskunft mit den Worten: Un altro istante di questo silenzio e vi dannate per l’eternità! Ihr hysterischer Ausbruch, begleitet von schroff dissonanten und hart instrumentierten Orchesterschlägen, entlarvt den klösterlichen Seelenfrieden als Lüge. Sie erfährt von der Tante, dass ihr Sohn im Aller von fünf Jahren gestorben ist. Verzweifelt begeht Angelica Selbstmord, erkennt aber noch ihr schweres Verbrechen und ruft die Madonna um Vergebung an. Das Wunder geschieht, die Madonna bringt der Sterbenden ihr Kind. 

Dieser Schluss gilt in der Puccini-Literatur ziemlich übereinstimmend als fatale Entgleisung, z.B. bei Wolfgang Markgraf: „Was uns heute an dieser Fabel einigermaßen peinlich berührt, ist die nebulöse Mystik, in die sie sich auflöst.“ Tatsächlich verlangen Giovacchino Forzanos Szenenanweisungen ein Bühnenspektakel mit Engelschor und Auftritt der Muttergottes in der illuminierten Kirche. Puccini selbst aber sah, wie eingangs erwähnt, in seiner Oper ein Drama der Leidenschaften, dem das Religiöse als Hintergrund dient. Das würde eine andere (szenische) Interpretation ermöglichen und nahelegen, die zwar gegen Forzanos Szenenanweisungen, aber nicht gegen den Sinn der Komposition verstößt: Weniger ein Mirakel wird sichtbar als die Wahnvorstellung der verwirrten und vom allmählich wirkenden Gift geschwächten Nonne. Ein solches Verständnis wäre die konsequente Umsetzung der psychologischen Studie, die Puccini in dieser Oper geliefert hat.

Wie im Tabarro setzt Puccini auch in Suor Angelica das Opernkonzept um, wie er es schon in den von Illica und Giacosa getexteten, von der Suche nach Authentizität und Plausibilität gekennzeichneten und einem illusionslosen Blick auf die Wirklichkeit geprägten Stücken erprobt hatte: In einem authentischen Milieu (für dessen Erstellung Puccini bei seiner Schwester Iginia, einer Nonne, recherchierte) ist das Nachspiel der Geschichte einer zerstörten Liebesbeziehung angesiedelt. Come è difficile di esser felice…

 

Das Beitragsbild zeigt eine Szene einer Inszenierung von Michael Barker-Caven an der Opera North (Leeds) aus dem Jahre 2016, die – ganz ungewöhnlich! – „Suor Angelica“ mit „Il Tabarro“ kombinierte und das eigentliche Zugstück „Gianni Schicchi“ beiseite ließ. – Photo: Trisram Kenton