Über W. G. Sebalds „Die Ringe des Saturn“

 

 

Vor mir liegt mein zerlesenes Exemplar von W.G. Sebalds „Die Ringe des Saturn – eine englische Wallfahrt“. Nachdenklich betrachte ich die mir vom Autor zugedachte Widmung. Ein gutes Jahr nach seinem Erscheinen im Frühjahr 1995 hatte ich das Buch bereits zweimal gelesen. Der Freund, dem ich es daraufhin nach England mitgab, um eben diese Widmung zu erhalten, erzählte mir später, Sebald habe wohl drei, vier Minuten nachgedacht über die Formulierung, habe dann aber nichts anderes zustande gebracht als seinen Namenszug (in einer die verschiedenen Buchstaben zu einer gleichmäßigen Wellenbewegung einebnenden Schrift) und die Angabe von Monat und Jahr.

Meine erste Lektüre ist nun also ziemlich genau ein Vierteljahrhundert her. Gestern Morgen, als ich die „Ringe“ aus dem Regal nahm – die gegenwärtige Epidemie lässt uns Zeit für solche Arbeiten wie die Korrektur einer manchmal nachlässig gehandhabten alphabetischen Sortierung – ist mir klar geworden, dass dieses Buch wohl dasjenige ist, das ich in diesem Vierteljahrhundert am häufigsten gelesen habe, häufiger noch als die von mir so verehrten Thomas-Mannschen Riesenschmöker.

Und am Abend, als ich mich daran machen wollte, ein Inhaltsverzeichnis dieses eigenartigen und faszinierenden Buches anzufertigen – auch das eine Tätigkeit, die uns die von der Epidemie verordnete Ruhigstellung gestattet -, stellte ich beim ersten Abspeichern fest, dass ich 2008, zur Halbzeit, schon einmal, ohne Epidemie, ein solches Inhaltsverzeichnis, unter gleichem Dateinamen, unternommen habe.

Mittlerweile, fast zwanzig Jahre nach seinem Unfalltod, ist Sebald weltbedeutend geworden, und eine kaum übersehbare Sekundärliteratur beschäftigt sich mit dem „typischen Sebald-Ton“, dem „meisterlichen Stil“ und der „gesteigerten Wahrnehmungsfähigkeit“ des Schriftstellers.

Die „Handlung“ dieses Buches besteht darin, dass der Ich-Erzähler im August 1992 eine Fußreise durch die ostenglische Grafschaft Suffolk unternimmt und sich vom dem, was er sieht und erfährt, zu verschiedenen Betrachtungen anregen lässt: Da geht es um das Leuchten der leblosen Heringe ebenso wie um die Säuberungsaktionen der kroatischen Ustascha oder den Fresstod der chinesischen Kaiserinwitwe Tz’u-hsi. Eben diese formuliert übrigens so etwas wie einen Grundton des gesamten Buches: „Eingekleidet bereits in das Sterbegewand, diktierte sie ihren Abschied von dem Reich, das unter ihrer beinahe ein halbes Jahrhundert währenden Regentschaft an den Rand der Auflösung gelangt war. Sie sehe jetzt, sagte sie, indem sie zurückblicke, wie die Geschichte aus nichts bestehe als aus dem Unglück und den Anfechtungen, die über uns hereinbrechen, Welle um Welle wie über das Ufer des Meeres, so dass wir, sagte sie, im Verlauf all unserer Erdentage auch nicht einen Augenblick erleben, der wirklich frei ist von Angst.“

Der melancholische Grundton von „Die Ringe des Saturn“ wird gebrochen durch wunderbar komische Episoden, wie die Schilderung eines Abendessen im natürlich trostlosen Speisesaal des trostlosen Victoria Hotels im trostlosen Lowestoft: „Dieselbe verschreckte Person ist es auch gewesen, die mir einen gewiss schon seit Jahren in der Kühltruhe vergrabenen Fisch brachte, an dessen paniertem, vom Grill stellenweise versengten Panzer ich dann die Zinken meiner Gabel verbog. Tatsächlich machte es mir solche Mühe, ins Innere des, wie es sich schließlich zeigte, aus nichts als seiner harten Umwandung bestehenden Gegenstands vorzudringen, dass mein Teller nach dieser Operation einen furchtbaren Anblick bot. Die Sauce Tartare, die ich aus einem Plastiktütchen hatte herausquetschen müssen, war von den rußigen Semmelbröseln gräulich verfärbt, und der Fisch selber, oder das, was ihn vorstellen sollte, lag zur Hälfte zerstört unter den grasgrünen englischen Erbsen und den Überresten der fettig glänzenden Chips.“

Vielleicht kann mein Inhaltsverzeichnis (das ich um jeweils ein Zitat aus den zehn Kapiteln ergänzt habe) den einen oder die andere zur Lektüre der „Ringe des Saturn“ anregen. Ich jedenfalls freue mich auf das nächste Mal.