Der unverbesserliche Romantiker
Ü
ber Kurt Atterbergs Violinkonzert
(
Sieben unerhört hörenswerte Violinkonzerte I)

 

 

 

Siebenmal Atterberg

  • Er war Ingenieur und arbeitete als solcher von 1912 an am Königlichen Patentamt seines Heimatlandes, seit 1936 in leitender Stellung. 1968, als Achtzigjähriger, wurde er – offenbar gegen seinen Willen – pensioniert.
  • Er komponierte viel und hinterließ ein umfangreiches Oeuvre, darunter neun Sinfonien, die Neunte, dem großen Vorbild folgend, für Orchester und Chor.
  • Er war in ganz Europa als Dirigent unterwegs. Am 30. November 1917 dirigierte er erstmals die Berliner Philharmoniker in einem Konzert nur mit eigenen Werken.
  • Er gewann mit seiner sechsten Sinfonie den Internationalen Schubert-Wettbewerb 1928, den die Schallplattenfirma Columbia zum 100. Todestag Franz Schuberts ausgeschrieben hatte. Dabei deklassierte er unter anderem Franz Schmidt (dessen dritte Sinfonie den zweiten Preis erhielt). Das Preisgeld für die „Dollarsinfonie“, immerhin 10.000 US-Dollar, ermöglichte ihm, einen Ford zu kaufen und Fahrstunden zu nehmen.
  • Er war von 1924 bis 1947 Präsident der Vereinigung schwedischer Komponisten, von 1934 bis 1938 Generalsekretär des Ständigen Rats für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten, daneben von 1919 bis 1957 Musikkritiker einer großen Stockholmer Tageszeitung.
  • Er schrieb fünf durchaus erfolgreiche Opern. 1952 aber war seine Zeit vorbei: Seine Oper Härvards Heimkehr wurde nach der Premiere abgesetzt, da für die zweite Aufführung kaum Karten verkauft worden waren.
  • Er begann 1947 – da war er sechzig Jahre alt und hatte noch über ein Vierteljahrhundert zu leben – seine Memoiren, die am Ende acht Bände und über 2500 Manuskriptseiten umfassten. Den letzten Teil mit dem Titel Die lebende Leiche konnte er nicht mehr vollenden. Diese Memoiren wurden nie veröffentlicht und liegen jetzt, zusammen mit 10.000 (zehntausend!) Briefen, aufbewahrt in einem Archiv.

 

 

Drei Hörtipps

Wann hat er das alles gemacht? Kurt Atterberg (1887 – 1974), von dem hier die Rede ist, muss ein administratives Genie und ein höchst disziplinierter Arbeiter gewesen sein. Aber nicht allein die Fülle der Aufgaben, das Arbeitspensum, das Quantitative sind bemerkenswert; erstaunlich ist auch und vor allem die Musik, die dieser Mann so nebenbei erschuf. Wem sie nicht bekannt und vertraut ist, dem empfehle ich hier drei kleine Bruchstücke, die geeignet sind, den Hörer für den schwedischen Komponisten zu gewinnen: ein Spätwerk, ein mittleres, ein frühes.
Da ist, erstens, die geheimnisvolle Adagio-Introduktion zur letzten Sinfonie, der Sinfonia visionaria (1956). Da ist, zweitens, das Finale der Fünften, der Sinfonia funebre (1922), in dessen Reprise die Themen in gespenstische Walzermelodien verwandelt werden. Und da ist, drittens, der wunderbare langsame Satz aus dem Violinkonzert in e-Moll aus dem Jahr 1913.
1913 ist das Jahr der Uraufführung von Strawinskys Sacre du Printemps und das Jahr des berühmten Skandalkonzerts in Wien, in dem Musik von Schönberg, Berg und Webern aufgeführt wurde oder aufgeführt werden sollte. In dieser Liga konnte und wollte Kurt Atterberg nicht mitspielen. Die überall hörbaren Anzeichen eines Stilwandels – Aufweichung der Funktionsharmonik, erweiterte Tonalität, Klangfarbenexperimente, formale Neuerungen – nahm er wohl nur widerwillig zur Kenntnis, gehörte vielmehr zu den vielen, die klassisch-romantische Traditionslinien weiterzuführen suchten. „Ich bin ein unverbesserlicher Romantiker“, erklärte er. Das kann ihm niemand ernsthaft vorwerfen, das zeitgenössische Konzertpublikum hat ganz ähnliche Präferenzen. Übel ist freilich, dass ihn seine konservative Musikauffassung in schlimme Allianzen trieb – dazu ganz unten mehr. 

 

 

Ein Violinkonzert

Kurt Atterbergs Violinkonzert in e-Moll op. 7 wurde am 11. Februar 1914 von Sven Kjellstrom und den Göteborger Symphonikern unter der Leitung des Komponisten uraufgeführt. Atterberg dirigierte ebenfalls die deutsche Erstaufführung, am 30.November 1917 in Berlin, mit den Philharmonikern und Julius Ruthström. Das Konzert ist – selbstverständlich für einen „unverbesserlichen Romantiker“ – dreisätzig mit der Folge Moderato, Adagio cantabile, Allegro molto. Für den ersten und dritten Satz beschränke ich mich auf eine Formübersicht, für das Adagio cantabile versuche ich eine anteilnehmende Betrachtung. 

Erster Satz, Moderato. Ein pp-Tremolo in den Streichern öffnet den Vorhang für den Auftritt des Solisten, der mit einem erregten und entschlossenen Thema auf der G-Saite sofort alle Aufmerksamkeit auf sich bündelt. Das hat es schon vorher gegeben (zum Beispiel in Saint-Saëns’ drittem Violinkonzert) und ist doch eindrucksvoll und überzeugend gemacht. 

 

 

 

 

 

 

 

Sergio Cánovas gibt einen Formüberblick über diesen Satz: „The first movement is structured in sonata form. It opens with a dramatic main theme presented by the soloist in a virtuosistic way, being supported by the orchestra. The music rises in great climaxes. A tender and lyrical second theme is then presented by the soloist. The development begins with a dramatic turn, followed by a combination and transformation of the materials presented, all while the violinist shows-off. Follows a nuanced cadenza for the soloist, combining lyrism with virtuosity. The recapitulation is inverted, with the delicate second theme before the romantic main one. A brilliant and powerful coda on the main theme ends the movement.“

Der langsame Satz Adagio cantabile ist in grober Annäherung dreiteilig und innerhalb dieser Anlage sehr differenziert gestaltet. Ein pulsierender Rhythmus im Horn, eine bewegte Streicherfläche, ein kleiner Aufschwung am Ende der ganz kurzen Einleitung, dann setzt die Solovioline mit einer Melodie in A-Dur ein, die in weitem Bogen nach oben ausgreift und wieder zum Ausgangston zurücksinkt:

Das Orchester übernimmt diese Melodie, die Solovioline umkleidet sie mit feinen Umspielungen

und leitet so zu einer ersten Steigerung und einer ersten Zurücknahme, bis sich die Musik einen kurzen Halt gönnt:

Eine zweite Melodie schließt sich an, schlicht, weich und melancholisch, in e-Moll, mit einem auffälligen übermäßigen Schritt zu Beginn und einem auffälligen Ausweichen in die neapolitanische F-Dur-Harmonie:

Wieder führt die Solovioline die Steigerung an, bis dann zum ersten Mal das Orchester con moto die Führung übernimmt, mit neuen Gedanken:

Nun löst sich die dichte Fügung und eine Reihe wunderbarer Ideen folgt aufeinander. Zwei Takte der Beginn des Hauptthemas in einer herben Harmonisierung,

abgelöst von einer kleinen Kadenz der Sologeige, die ja zwölf Takte geschwiegen hatte und nun auf die Gedanken des Orchesterzwischenspiels zurückgreift. Ein kurzer Einwurf, wie die Interpunktion eines Rezitativs, dann wieder das so fremd harmonisierte Fragment des Hauptthemas. Dieses leitet zur Reprise des ersten Teils über, in einer zauberhaften Verwandlung:

Das Hauptthema erklingt in schönster Geigenlage, nun über sanft bewegten Harmonien über dem fortgeführten A als Orgelpunkt. Die weitere Entwicklung folgt mit einigen Freiheiten dem ersten Abschnitt: Steigerung – Zurücknahme – Fermate – zweites Thema. In der Coda setzt der pulsierende Rhythmus im Horn, mit dem das Stück begonnen hatte, wieder ein, auch die Geigen erinnern an den Beginn, der Kreis schließt sich. Sanftes Verklingen.

Für den dritten Satz bemühe ich wieder Sergio Cánovas: „The third movement is structured as an extensive rondo. It opens with an energic main theme presented by the violinist, full of will and bravura.“

„This is followed by a more playful and melodic second theme, followed by a third that, dispite having little contrast, is a showcase for the soloist. The main theme is then recapitulated, followed by the rest. The movements keeps going in this fashion, constant recapitulations but with some changes in them. A lyrical variation of the main theme offers some novelty, leading us to a calm and glowing coda.“

 

 

Kurt Atterberg und Richard Strauss und die Nazis

Ein schöner Tag im Mai des Jahres 1933 auf der Piazza della Signoria in Florenz. Der achtundsechzigjährige Richard Strauss ist nach Florenz gekommen, um beim Maggio Musicale zu dirigieren, nun sitzt er im Café und spricht über seine Ideen zur Gründung einer Gegenorganisation zur ISCM (im deutschen Sprachraum IGNM, die Internationale Gesellschaft für Neue Musik). Diese ist ihm zu Avantgarde-lastig. Tatsächlich werden auf den ISCM-Festivals Werke von Komponisten wie Alban Berg, Paul Hindemith, Igor Strawinski, Arnold Schönberg aufgeführt, ihm dagegen schwebt eine internationale Festivalkultur vor, die „die Interessen eines breiteren Publikums bedienen kann“.
S
trauss’ Gesprächspartner ist der schwedische Komponist Kurt Atterberg, der sich geehrt fühlt, dass der weltberühmte Strauss gerade ihm seine Ideen entwickelt, und in ihm einen Gesinnungsgenossen findet, was seine Ablehnung der „modernistischen“ Musik anbelangt. Strauss aber wird noch in diesem Jahr von Joseph Goebbels zum Präsident der Reichsmusikkammer ernannt und so in die Lage versetzt, seine Ideen in die Tat umzusetzen. Mit der Unterstützung des Regimes gründet er den Ständigen Rat für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten. 1934 macht er Kurt Atterberg zum Generalsekretär dieser Vereinigung. Als solcher organisiert der Schwede Musikfeste, vergibt Kompositionsaufträge und spannt ein Netzwerk „völkisch“ gesinnter Komponisten.
Die schwedische Musikwissenschaftlerin Petra Garberding hat dem Ständigen Rat für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten viel Arbeit gewidmet. In ihrem Buch Music and Politics in the Shadow of Nazism: Kurt Atterberg and Swedish-German Musical Relations berichtet sie über die feierliche Eröffnung des Komponistentreffens am 18. Februar 1934 in Berlin und vergleicht die Berichte in der deutschen Presse mit denen, die Kurt Atterberg für Stockholms-Tidningen schrieb. Ihre brillante Analyse offenbart die scheinbar geringen, tatsächlich enormen Bedeutungsverschiebungen vom deutschen O-Ton etwa der Reden von Richard Strauss über die kommentierende Wiedergabe in der deutschen Presse bis hin zur Darstellung Kurt Atterbergs in der schwedischen.
„In den deutschen Zeitungsartikeln geht es um völkische Musik, volksverbundene Musik, and Musik des Volkes. Völkische Musik war ein Konzept mit eindeutigen rassenbiologischen Bezügen, die die Begriffe volksverbundene Musik und Musik des Volkes nicht unbedingt aufweisen.Völkisch war ein zentrales nationalsozialistisches Konzept, in dem verschiedene Völker aufgrund ihrer biologischen rassenmäßigen Eigenart definiert wurden. Atterberg übersetzte alle drei Begriffe – völkische Musik, volksverbundene Musik, und Musik des Volkes mit folklig musik. Das schwedische Wort folklig aber war und ist ein Wort mit positiven Bezügen, das zum Beispiel ‚natürlich, original, einfach‘ bedeutet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dieser Begriff häufig gebraucht, um eine authentische nationale Kultur zu beschreiben, die vom Aussterben bedroht schien. Als Atterberg völkisch mit folklig übersetzte,  verschwand für seine Leser der nationalsozialistische Gehalt des Begriffs und wurde zu einem schwedischen, positiv besetzten Wort.“ (Petra Garberdings Ausführungen habe ich geringfügig gekürzt. Das ungekürzte englischsprachige Original findet sich in den Anmerkungen.) Atterberg verschweigt übrigens auch die „Sieg Heil!“-Rufe des Publikums und lässt Wilhelm Kienzl (den Evangelimann-Kienzl) unerwähnt, der von der Sehnsucht Österreichs nach dem Anschluss ins Reich schwadroniert. 
E
s bleibt unklar, wie bewusst und mit welchen Intentionen Atterberg diese Filter einsetzte. Fest steht, dass ihm zeit seines Lebens eine schwedische national geprägte Musikkultur ein besonders Anliegen war, und anzunehmen ist, dass es dieses Anliegen war, was ihn steuerte. Eine dezidierte Parteinahme für die Nazis ist meiner derzeitigen Kenntnis nach nicht nachweisbar. Die Zeitung Stockholms-Tidningen, für die Atterberg fast vierzig Jahre schrieb, war liberal bzw. sozialdemokratisch orientiert.
Den 
Makel, mit nationalsozialistischen Kulturpolitikern zusammengearbeitet zu haben, wurde Atterberg freilich nicht mehr los. Im Oktober 1945 setzte die schwedische Königliche Musikakademie eine Kommission ein, die die gegen ihn erhobenen Vorwürfe prüfen sollte und zum Urteil kam, „dass die uns gegebene Erklärung Herrn Atterbergs, dass er sowohl kein Interesse als auch keine Einsichten bezüglich Politik hat, völlig richtig ist. Es scheint uns wahrscheinlich, dass Herr Atterberg bei den Maßnahmen und Äußerungen, die ihm vorgeworfen wurden, in Wirklichkeit vom Eifer für die Interessen der schwedischen Musikwelt beherrscht wurde, mit einer ausgeprägten nationalistischen Einstellung und mit berufsökonomischen Gesichtspunkten stark im Vordergrund.“

Der Komponist Kurt Atterberg ist übrigens keineswegs ein „unverbesserlicher Romantiker“ geblieben. Seine Entwicklung von den spätromantischen Anfängen bis hin zu solchen Werken wie der mit Zwölftonreihen arbeitenden neunten Sinfonie ist erheblich und erstaunlich. Weder in den frühen noch den späteren Kompositionen kann ich etwas grob Affirmatives oder etwas Kriegstreiberisches hören. Ohne schlechtes Gewissen kann man also der Empfehlung eines Kritikers der Allgemeinen Musikzeitung (offenbar in einer Besprechung einer Aufführung des Violinkonzertes durch Alma Moodie und Max von Schillings im November 1919) folgen: „Dieser begabte Schwede zeigt sich in den drei Sätzen seines für das Soloinstrument außerordentlich dank- und sangbar geschriebenen Werkes als phantasie- und erfindungsreicher Tonpoet, der stets anregsam und bisweilen höchst  spannend zu erzählen weiß. Allenthalben finden sich wertvolle Gedanken, charakteristische Einfälle. Die elegische, heimatlich schimmernde Farbe des gefühlstieferen zweiten Satzes beansprucht in gleichem Maße die Anteilnahme des Hörers wie das von rhythmischen Launen pikant durchpulste lebensvolle Finale. Kurzum, die leistungsfähigen Geiger sollten hier zugreifen und uns dafür einmal weniger das Bruch- und das Brahms-Konzert spielen.“

 

Anmerkungen und Nachweise

 

Dieser Beitrag gehört zu meinem Projekt „Sieben unerhört hörenswerte Violinkonzerte“. Hier geht es zur einer Kurzdarstellung dieses Projekts und zu den anderen Beiträgen.