Haiku der Woche 26/27  – 27. Juni 2021

 

Haiku & Senryu

Zu den Gedichten „aus dem Wartezimmer“, hier zu finden, erhielt ich eine kritische Zuschrift – nicht wegen der Qualität der Texte, sondern aufgrund ihres Etiketts, ihrer Einordnung als „Haiku der Woche“:

„ Du stellst diese ku-Folge als Haiku vor, allerdings handelt es sich ausnahmslos um Senryu. Natürlich bleibt es eine grundsätzliche und methodische Frage jeglicher Herausgeberschaft, ob überhaupt diese Unterscheidung getroffen werden soll.  Im deutschen Haikuraum wird sie mehrheitlich unterschlagen. Somit besteht dort für diesen traditionell aber klar getroffenen Unterschied wenig Bewusstsein bei Lesern, Autoren, Redakteuren und Herausgebern. Aus japanischer Sicht werden im ganzen Westen sogar hauptsächlich Senryu und kaum Haiku geschrieben.“ (Beate Conrad)

Worum geht es? Die japanische Tradition unterscheidet zwei formal ganz ähnliche, oberflächlich sogar gleiche Gedichtformen. Der Unterschied liegt im inhaltlichen Zugriff – dazu zunächst Wiki, die es sich einfach macht: „Das Senryu ist eine dem Haiku sehr ähnliche japanische Gedichtform. Während das Haiku aber mehr der Natur zugewandt ist, befasst sich das Senryu mehr mit dem Persönlichen, dem Emotionalen.“ Eine solche Grenze ist allerdings nicht immer ganz leicht zu ziehen. Klaus-Dieter Wirth (ausgewiesener Fachmann und gemeinsam mit Beate Conrad Herausgeber von Chrysanthemum, dem Internet-Magazin für moderne Versformen in der Tradition japanischer Kurzlyrik) gibt eine differenziertere Gegenüberstellung der Unterschiede zwischen Haiku und Senryu.

 

Der Autor des Haiku

  • ist Beobachter,
  • spricht von seiner eigenen Erfahrung,
  • übermittelt nur die konkreten Bilder selbst,
  • teilt sein Erlebnis mit uns,
  • entdeckt und gibt weiter,
  • akzeptiert,
  • bedient sich der Intuition,
  • macht aufrichtig aufmerksam,
  • legt Respekt an den Tag,
  • zeigt immer Anstand,
  • richtet seinen Blick auf das Hier und Jetzt.

 

Der Autor eines Senryu

  • ist Kommentator,
  • ist außenstehender Kritiker,
  • liefert uns seine Interpretationen,
  • legt sein Wissen dar,
  • stellt zur Schau und belehrt,
  • stellt in Frage,
  • appelliert an den Verstand,
  • legt genüsslich bloß,
  • ist unehrerbietig,
  • kann sogar ein wenig vulgär werden,
  • analysiert aus der Distanz, tendiert dabei zu Aphorismen,
  • strebt hauptsächlich danach, seltsames Verhalten aufzudecken.

 

Es ist gut, diese Dinge zu wissen. Der Ansatz, diese Unterschiede hintanzuhalten und Gedichte zu schreiben, die diese Differenzierung umgehen, mag nun leichtsinnig sein – ist aber ja doch unbedingt legitim. (Und auch im Ursprungsland Japan wurde und wird die Frage, wie ein Haiku zu sein und wie es nicht zu sein habe, ja durchaus unterschiedlich und strittig beantwortet.) In den online splashes des Frogpond, dem Journal der Haiku Society of America, werden seit einigen Jahren die neu entstandenen Gedichte unter der Überschrift „Haiku & Senryu“ veröffentlicht, ohne die Frage „Which is which?“ irgend zu beachten. 

Von jeder Frogpond-Ausgabe werden einige wenige Texte online frei zugänglich gemacht – hier eine Auswahl aus dieser Auswahl der aktuellen Ausgabe (Winter 2021). Jedes der vier folgenden Gedichte hat mich berührt und angesprochen, aus ganz unterschiedlichen Gründen und in ganz unterschiedlicher Weise – die Frage aber, ob es sich im Einzelfall um ein Haiku oder um ein Senyru handelt, erscheint mir müßig. (Übrigens kümmern sich weder meine Übersetzungen noch die Originale – hier – um das bekannteste Haiku-Oberflächenmerkmal, nämlich die 5-7-5-Silbenzahl.)

 

wie zu Hause –
S
ocken
u
nter ihrem Krankenhausbett

Mark Teaford

 

unser Gespräch…
P
apa benutzt wirklich das Wort
R
iesentitten

Aaron Barry

 

nichts sagen
a
uf der Beerdigung
s
ollen sie glauben es sei Trauer

Joseph Robello

 

Trompetenjazz
d
ie Vögel auf der Straße
z
errupfen einen Krapfen

Bryan Rickert

 

Dass ich dafür plädiere, im Umgang mit den Begriffen Haiku und Senryu nachsichtig zu sein (weil so viele Autoren sich längst von der japanischen Tradition gelöst haben oder ganz unabhängig von ihr schreiben), bedeutet nicht, dass ich an die Texte keinen Anspruch stelle. Wer nichts zu sagen hat oder nicht weiß, wie er es sagen soll, schweige. Auch Klaus-Dieter Wirth gesteht zu, dass die strenge begriffliche Zuordnung zu einer Gattung nachrangig ist, denn es komme weniger „darauf an, was das Kind für einen Namen hat, sondern dass es ein gut geratenes Kind, sprich: ein gelungener Text ist“. In meinen eigenen Überlegungen zur Frage „Was ist ein ´Haiku?“ – hier – plädiere ich für Toleranz: Der äußerste „Kreis“, der alle anderen engeren und differenzierenden Definitionen in sich schließt, heißt einfach: „Das, was der Verfasser ‚Haiku’ nennt, sei ein Haiku.“ Als Haiku/Senryu/Keinsvonbeiden/Wasauchimmer formuliert:

 

Es ist ein Haiku,
wenn der Verfasser dir sagt:
Es ist ein Haiku.

 

 

Vielen Dank an Beate Conrad für ihren Denkanstoß. Der Aufsatz „Haiku, Senryû, Zappai“ von Klaus-Dieter Wirth ist auf der Web-Präsenz der Deutschen Haiku-Gesellschaft nachzulesen. Die vier zitierten Gedichte sind Teil der Online-Präsentation des Frogpond 44.1 vom Winter 2021.