Haiku der Woche 20/21/22 – Was ist ein Haiku? Versuch einer Klärung in dreimal drei Kreisen

Was ein Haiku ist, dazu gibt es viele Meinungen. Ich lasse sie, vorbildlich tolerant, alle gelten, versuche aber, pädagogisch vorbildlich, sie zu ordnen. Als Ordnungsprinzip benutze ich ineinanderliegende Kreise: Der weiteste Kreis umfasst alles, was sich Haiku nennt, der engste Kreis enthält die genauesten Festlegungen und ist damit eher den ganz traditionellen Haiku vorbehalten.

 

Erster Kreis: Das, was der Verfasser „Haiku“ nennt, sei ein Haiku.
Selbsterklärend. Als Haiku klingt diese Definition etwa so:.

Es ist ein Haiku,
wenn der Verfasser dir sagt:
Es ist ein Haiku.

W.V.

 

Zweiter Kreis: Ein Haiku sei ein kurzes Gedicht.
Überall ist zu lesen, das Haiku mit seiner Beschränkung auf 17 Silben sei die kürzeste Gedichtform der Welt. Diese Form, die – mit einigen Sprüngen – sich in Jahrhunderten herausgebildet hat, hat zu tun mit dem Augenblickscharakter traditioneller Haiku. Es geht um den kurzen Moment, in dem der Frosch in den alten Teich springt, nicht um eine Schilderung dessen, was dieser Sprung in meinem Inneren auslöst, oder dessen, was er mir über den Zusammenhang des Weltganzen verrät… Das Haiku war, ist und bleibt eine äußerst reduzierte dichterische Aussage.

Hier noch ein radikales, kurioses Beispiel. Das wohl kürzeste Haiku überhaupt (von John Stevenson aus dem Jahr 2009) findet sich in einem Wiki-Artikel über „Haiku in English“:

core

John Stevenson

Die Erkennbarkeit als Haiku und die Sinngebung hängen hier von der Präsentation und vom Zusammenhang ab: Das Wort „core“ („Kern, Ader, Inneres“) steht mittig auf der mittleren Seite der Haiku-Sammlung „Live again“.

 

Dritter Kreis: Ein Haiku sei ein kurzes, in drei Zeilen angeordnetes Gedicht.
Bereits die japanischen Klassiker sind dreizeilig, bedenke jedoch: „In japanischen Druckausgaben sind die Worte einzeilig untereinander geschrieben, wobei die zusammengehörigen Wortgruppen durch Zwischenräume voneinander abgesetzt sind.“ (Dietrich Krusche) – Hier das älteste Gedicht aus dem Reclam-Band „Haiku – Gedichte aus fünf Jahrhunderten“ (ein sehr schönes Buch, das Gründlichkeit mit einem hohen Spaßfaktor kombiniert), ein Gedicht etwa aus der Zeit um 1530:

Die Hände am Boden
intoniert er in großer Pose
seinen Gesang – der Frosch

Yamazaki Sōzan

Tatsächlich orientieren sich die allermeisten der heute veröffentlichten Haiku an der Norm der Dreizeiligkeit. Von 52 für die Septembernummer 2017 der Zeitschrift „Sommergras“ ausgewählten Haiku sind 52 dreizeilig (aber nur drei befolgen die gleich zu erläuternde 5-7-5-Regel). – Ausnahmen gibt es immer, hier ist eine recht schöne:

kein Strafzettel
Herbstblätter

Martin Berner

 

Vierter Kreis: Ein Haiku sei ein kurzes, in drei Zeilen zu fünf, sieben, fünf Silben geordnetes Gedicht.

Besonders im Herbst
Vergesse ich, wieviele
Silben ein Haiku

Harry Rowohlt

Anders als der geniale Harry Rowohlt  – er ruhe in Frieden – vergessen wir es nicht:  Die 5-7-5-Regel (fünf Silben für die erste, sieben für die zweite, fünf für die dritte Zeile) ist die populärste, überall zu findende Bestimmung von „Haiku“. Sie hat aber ihre Tücken, denn das traditionelle japanische Haiku, von dem sie abgeleitet ist, zählt nicht Silben, sondern Moren. „Kurze Silben sind in Sprachen, in denen der Morenbegriff relevant ist, einmorig; lange Silben dagegen zweimorig oder, in manchen Sprachen, sogar dreimorig. Die japanische Sprache für ihre morischen Qualitäten bekannt. Die meisten Dialekte (einschließlich der Hochsprache) verwenden Moren anstatt Silben als Einheit ihres Lautsystems.“ (Wiki) Der Städtename Osaka hat drei Silben, aber wegen der Längung des O vier Moren. Das deutsche Wort „schwingst“ reiht sechs verschiedene Laute aneinander, ist aber einsilbig. Es macht also keinen Sinn, die 5-7-5-Regel allzu ernst zu nehmen:

after laundry
my haiku shrinks into
4-6-4 size

Minh-Triêt Pham

 

(Herbert Weber, für diese Homepage)

 

Fünfter Kreis: Das Haiku sei sprachlich sorgfältig geformt.
In seinem Aufsatz „Sommergräser und Heideträume“ kritisiert Robert F. Wittkamp mit ernstem und berechtigtem Spott sprachlich unbeholfene Übersetzungsversuche: 

Das Sommergras, ach,
Ist von den Kriegern nun noch
Der Rest der Träume

(Bashō – Jan Ulenbrook)

Hier liegt in der Tat vieles im Argen: die verquere Satzstellung, der überflüssige erste bestimmte Artikel, das altmodische „ach“, der üble Genitiv „von den Kriegern“, die Füllworte „nun noch“ … (Zur Übersetzungsproblematik und zum berühmten „Sommergras“-Haiku siehe hier.)

Ob nun Übersetzung oder Original – dass ein Haiku ungekünstelt, aber nicht kunstlos sein soll, ist natürlich eine unklare und nicht leicht zu erfüllende Forderung. Das japanische „Haiku spielt mit Assonanzen und Alliterationen, hat einen ausgeprägten inneren Rhythmus  und eine aus den Intonationsmöglichkeiten der japanischen Sprache gewonnene Melodik“ (Dietrich Krusche). Was im Deutschen an die Stelle dieser Stilmittel treten könnte oder solIte, lässt sich nicht regeln. Die Möglichkeiten sind so vielfältig wie die Sprache überhaupt: Klangmalerei, Metaphern und Vergleiche, Wiederholungen und Kontrastbildungen (Reime nicht)… Im folgenden Beispiel hat der Autor die Stilfigur der Alliteration wohl etwas übertrieben eingesetzt.

Vor einem Schneefeld
von vollkommener Schönheit.
Das stete Gluckern.

Wolfgang Volpers

Gelungen finde ich im folgenden Haiku die Veränderung von den offenen Vokalen des Beginns zu den schmalen i- und e-Lauten – wie der  Blick sich allmählich auf den entscheidenden Punkt konzentriert: 

Auf den Grabplatten
Namen und Zahlen verborgen
im ersten Schnee

Wolfgang Volpers

Einen ganz anderen Weg der Formung geht das folgende, sehr beeindruckende Haiku: 

Flamingos
Flamingos im Abendrot
Abendrot

Klaus-Dieter Wirth

 

Sechster Kreis: Das Haiku sei konkret.
Kein lyrisches Ich, keine Gefühle und keine Gedanken, keine Bekenntnisse, keine Betrachtungen. Stattdessen: Aufmerksamkeit für das, was uns umgibt, was zu sehen und zu berühren ist. Das Haiku übermittelt die konkreten Bilder, teilt sie mit uns, kommentiert sie aber nicht. Dass es ein Ich gibt, das das Äußere wahrnimmt, wird vorausgesetzt, aber diskret verborgen.

Natürlich gibt es auch außerhalb dieses Definitionskreises gute Haiku. Die folgenden  drei Gedichte (das letzte ein Doppel-Haiku) realisieren jedenfalls die Forderung nach Konkretheit mit unterschiedlicher Strenge.

Tote Blätter:
Es 
führt kein anderer Weg
ins warme Haus.

 

Der gedeckte Tisch:
wich
tig für mich – belanglos
in 
einem Haiku.

 

Morgendämmerung
Aus
einandersetzungen
Ab
enddämmerung

Abenddämmerung
A
useinandersetzungen
M
orgendämmerung

 

Wolfgang Volpers

 

Siebter Kreis: Das Haiku verbinde Getrenntes.
Viele Haiku fügen zwei Bilder zu einem zusammen und verbinden so zwei eigentlich voneinander getrennte Bereiche. Hier ein altes und ein modernes Beispiel. (Das Haiku von Buson entstammt dem Reclam-Band „Haiku – Gedichte aus fünf Jahrhunderten“, das moderne – im Original englisch oder russisch – dem „Sommergras“.)

Frühling vorbei –
die Brille, die nicht mehr passte,
verloren

Yosa Buson (1769)

 

Dezembernacht – 
warme Geldscheine 
aus dem Bancomat

Hana Niestieva (2016)

 

Das traditionelle Haiku benutzt zum Verbinden und Trennen das kireji, das Schneidewort. Ein bekanntes kireji ist ya, das z.B. am Ende der ersten Zeile von Bashōs Frosch-Haiku steht (hier nachzulesen). Das ya trennt den still und reglos daliegenden „alten Teich“ von dem Geräusch und der Bewegung und verbindet sie, da der Leser diese beiden Bilder aufeinander bezieht.

Das folgende Haiku verwendet eine typische deutsche Übersetzung eines kireji – den Gedankenstrich.

Der Kuckuck ruft –
die Brüder wenden sich
und sehen einander an

Kyorai

 

Achter Kreis: Das Haiku habe einen Bezug zu einer Jahreszeit.
Das Haiku sei konkret, verlangte der sechste Kreis, und das heißt ursprünglich, dass eine Naturbeobachtung eine zentrale Rolle spielt – und diese Naturbeobachtung ist einer bestimmten Jahreszeit zugeordnet. (Die Kirschblüte, die Tausende von Haiku inspiriert hat, z.B. diese, ist das bei uns populärste Beispiel.)

Eine Möglichkeit, diesen Bezug zu einer Jahreszeit herzustellen, ist das kigo, das Jahreszeitenwort. In Japan gibt es Kompendien, die saijiki, die Hunderte von kigo sammeln und erläutern und so dem Haiku-Dichter verfügbar halten. Ein Leser dieser Webseite machte mich auf Gabi Greves „World Kigo Database“ aufmerksam, in der eine verwirrende Fülle von Materialien zu Haiku und zu Jahreszeitenwörtern ausgebreitet ist.

Hier ein ungewöhnliches Beispiel für ein Sommer-Haiku (das kigo ist „Fliege“). Es entstammt dem oben bereits empfohlenen Reclam-Band „Haiku – Gedichte aus fünf Jahrhunderten“ von Eduard Klopfenstein und Masami Ono-Feller. Der Verfasser ist Mitsuhashi Toshio (1920 – 2001). Die Herausgeber erläutern: „Ein beißend-spöttisches, ja geradezu wütendes Haiku, wie man es sonst kaum je antrifft. Mit den zahllosen Fliegen oder den Fliegenschwärmen, die sich am Krieg mästen wie an einem Kadaver, sind nicht nur Fanatiker, Kriegstreiber und Potentaten anvisiert, sondern auch breite Kreise von Nutznießern, Waffenschiebern, politischen Opportunisten und ihrer Klientele.“

 

Neunter und letzter Kreis: Das Haiku sei einsam.
Stell dir vor: ein Lyrik-Abend im Literaturhaus, dem Haiku gewidmet. Für das laute Lesen eines Gedichts von Bashō habe ich gerade eben 10,02 Sekunden gebraucht. Wenn ich genauso viel Abstand zum nächsten Haiku ließe, könnte ich in einer Minute drei, in einer Stunde 180 Haiku schaffen. Das will niemand hören. 

Ähnlich unangemessen ist die Präsentation mehrerer Haiku auf einer einzigen Buchseite. Die – von mir ja hochgeschätzte – Zeitschrift „Sommergras“ versammelt auf einer kleinen Seite vierzehn Haiku. Die einzelnen Gedichte stoßen aneinander, stören sich gegenseitig, heben einander auf. – Wenn das Haiku etwas in mir bewirken und auslösen soll, wenn, umgekehrt, ich mich einem Haiku annähern will, braucht es Raum und Zeit. Das Haiku will mehrfach gelesen und bedacht sein, der Leser und Bedenker ergänzt es mit seinen eigenen Gedanken und Vorstellungen.

Haiku in Menge sind kein Haiku. 

Diese Überlegungen will ich abschließen mit meinem Lieblings-Haiku von Meister Bashō. Wer es – mehrfach! – lesen und bedenken will, findet es hier.