Lehrling und Meister 

Über Giacomo Puccinis „Messa di Gloria“

 

 

Der bekannte Name ist falsch, stammt jedenfalls nicht vom Komponisten. Auf dem Titelblatt des Autographs, das in Lucca im Museo Casa Natale Giacomo Puccini aufbewahrt wird, findet sich nur der schlichte Titel „Messa a 4 voci con orchestra“ und nichts von „Messa di Gloria“…

Mit „Messa di Gloria“ wird häufig eine nur aus Kyrie und Gloria (also den beiden ersten der fünf Teile des Messordinariums1) bestehende Kurzmesse bezeichnet, wie zum Beispiel in Gioacchino Rossinis Werk aus dem Jahr 1820. Puccini aber hatte 1878 mit dem dritten Satz, dem Credo – also eben nicht mit einem Satz einer „Gloria-Messe“ – begonnen, und diesen dann zu einer vollständigen, alle fünf Teile umfassenden Komposition integriert. Vielleicht war es ein Marketing-Gag des Verlegers, der sich in diesen Dingen nicht auskannte und dem der originale Name zu spröde oder zu verwechselbar erschien – jedenfalls taucht der Name „Messa di Gloria“ erst 1951 in New York, in der ersten Druckfassung auf.2

Puccini schrieb seine „Messe für vier Stimmen mit Orchester“ in den Jahren von 1878 bis 1880 als Abschlussarbeit seiner Studien am Istituto Musicale Pacini in seiner Heimatstadt Lucca. Die ersten Vorarbeiten mögen also die eines Achtzehnjährigen gewesen sein, bei der Uraufführung am 12. Juli 1880 war der Komponist 21 Jahre alt. – Wir, die wir Puccinis Welterfolge aus den Jahren um 1900 kennen, können heute kaum anders, als das Werk als „Verheißung für das Kommende“ wahrzunehmen (so oder ähnlich kann man  es ja auch immer wieder im Musikschrifttum lesen) – der unvoreingenommene und aufmerksame Hörer erlebt das Stück aber doch als in sich stimmig und vollkommen, als gültig, und nicht als Schülerarbeit und bloße Vorbereitung. – Ich greife einige Ausschnitte des Werkes heraus und behandle das abschließende Agnus Dei etwas ausführlicher.

Wie geschickt und schön sind die Gesangstimmen schon des Kyrie gearbeitet: Jede Stimme ist in sich vollkommen melodisch geführt, sehr sanglich, mal hervortretend, mal sich unterordnend (das Notenbeispiel 1 zeigt den ersten Choreinsatz) – das ist Musik, die Chorsängern Spaß macht, jedenfalls solchen, die keine inneren Sperren gegen die italianità dieser Musik haben. Der Satz ist, nach einem kurzen Orchestervorspiel, als A-B-A-Form angelegt, die der junge Komponist als deutlichen Kontrast realisiert, zunächst einen der Tonarten (As-Dur, f-Moll), dann auch einer der Satztechnik und des Ausdrucks: Der zweite „Christi eleison“-Durchgang setzt der Innigkeit, der Lyrik des „Kyrie“ plötzlich ein energisches kleines Fugato entgegen – ein „Treppenfugato“, das hier mit seltener Konsequenz realisiert wird (Notenbeispiel 2).

Die Eröffnungsmelodie des Gloria ist von solch einem mitreißenden Schwung, das man sie sich auch vor den Türen des Café Momus gesungen denken könnte3: ein fast gassenhauerhafter Beginn, brav über die Hauptfunktionen von C-Dur, dann ein plötzliches und überraschendes Ausgreifen in entfernte Harmonien (Notenbeispiel 3). All das ist schon einmal erstaunlich, der Effekt aber, wenn diese Melodie plötzlich als Kontrasubjekt in die große Schlussfuge eingebracht wird, ist ungeheuer. Sie bildet denn auch den triumphalen Abschluss des Satzes: Der neunzehnjährige Puccini disponiert souverän die Massen von Chor und Orchester und schließt mit ungeheurer Verve und Brillanz. – Immer wieder begegnet man Vorbehalten gegen die „Äußerlichkeit“ oder „Opernhaftigkeit“ dieser Musik. Es kommt mir aber etwas nördlich-protestantisch vor, dieser Musik die „Glaubenstiefe“ abzusprechen4 – es  gibt ja andere Formen von Religiosität als nur die stille und verinnerlichte. Jedenfalls ist nicht einzusehen, warum das Lob Gottes nicht auch im Fortissimo und Prestissimo gesungen und gespielt werden sollte. 

Ein eindrucksvoller Kontrast ist danach der Einsatz des Credo, mit einer ernsten melodischen Gebärde (Notenbeispiel 4), die weit entfernt ist vom melancholischen Deszendenzmelos, das viele der großen Einfälle des späteren Puccini prägt. Das Thema kehrt mehrfach bedeutungsvoll wieder und trägt die überzeugende Gesamtarchitektur des Satzes. Es leitet auch über zum „Et incarnatus“ (das einem Uraufführungskritiker als das Werk eines reifen Meisters, nicht eines Studenten erschien5). 
Das Incarnatus wird in vielen Messkompositionen musikalisch, vor allem auch satztechnisch, vom Vorangehenden und Folgenden stark abgesetzt. Ein bekanntes Beispiel ist Mozarts c-Moll-Messe, in der der Komponist die Hörer mit einem ausgedehnten Sopransolo (mit Streichern und drei Solobläsern, also der Besetzung, die er auch in seinen Opern mehrfach einsetzte6), mit Koloraturen und einer virtuosen Kadenz überrascht. Auch Puccini bietet etwas Besonderes: Der Chor singt – das einzige Mal in der gesamten Messe – a cappella, aus dem Chorsatz löst sich der Solo-Tenor. Die Musik ist von verblüffender Einfachheit – und vielleicht gerade deswegen eine überzeugende Umsetzung der Worte, die ja einen zentralen Gehalt des christlichen Bekenntnisses, die Menschwerdung Gottes in Christus, formulieren.
Für Puccini – in seiner „Messa“ Kirchenmusiker in der fünften Generation – ist das Bekenntnis zur „unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam“ selbstverständlicher Bestandteil eines „Credo“. Homophon und perfekt textverständlich, überdeutlich, mit natürlichem Pathos wird der Text zelebriert. Nördlich der Alpen sieht die Sache anders aus: Beethoven lässt diesen Text ganz weg, Schubert versteckt ihn, lässt ihn nur von zwei Chorstimmen singen, der Sopran bringt das „catholicam“, der Tenor ein paar Takte später, während bereits anderer Text gesungen wird, das „apostolicam“.7

Ein Kuriosum ist das zweieinhalbminütige8 Agnus Dei: 
C-Dur, eine sanft zwischen Tonika und Subdominante hin und her pendelnde Begleitung, auf den Zählzeiten in den Bässen im Pizzicato die Grundtöne, nachschlagende Achtel in den hohen Streichern, eine schlichte Melodie (fast ein Kinderlied) in der Gesangstimme (Notenbeispiel 5), ein schön sich anschmiegendes Hornsolo, eine kleine Ausweitung nach e-Moll – mehr braucht es nicht für „Agnus Dei qui tollis peccata mundi“. Das „miserere nobis“ des Chors ist ebenso schlicht: eine die Tonleiter absteigende Melodie über einer Quintfallsequenz, in einem einfachen Chorsatz. Die zweite Anrufung des „Agnus Dei“ wiederholt diesen Ablauf von der Tonikaparallele a-Moll ausgehend; die dritte bringt eine Intensivierung des Geschehens, wenn nun zwei Solo-Stimmen die Kinderlied-Melodie in einer Art selbstverständlichem Wohlklang übernehmen und der Chor seine Antwort rhythmisch etwas aufgelöst formuliert.  Das „dona nobis pacem“ dann mit etwas bewegteren Triolen und einer harmonischen Ausweitung in den f-Moll-Bereich, dazu immer noch die sanft pendelnde Begleitung.
Keine 
kriegerischen Auseinandersetzungen wie in Beethovens „Missa solemnis“, keine Grübeleien wie in Schuberts Es-Dur-Messe. Die knapp formulierte Musik ist in Frieden und Einklang mit sich selbst und ihrer Aufgabe, sie entlässt uns mit einem Lächeln. Ob das nun mit Glaubensgewissheit komponiert ist oder als Befolgung einer selbstverständlichen Tradition und guten Sitte – wer wollte das entscheiden… 
Zehn 
Jahre später macht Puccini aus genau diesem Stück das „Madrigal“ im zweiten Akt der „Manon Lescaut“, das Geronte zu Ehren und zum Vergnügen seiner Geliebten aufführen lässt – und diese damit nur langweilt. Nun lautet der Text: „Auf dem Gipfel des Berges irrst du umher, Cloris: Deine Lippen sind zwei Blumen, und dein Auge ist wie ein Brunnen. Ach! Ach!…“ („Sulla vetta tu del monte erri, o Clori: hai per labbra due fiori, e l’occhio è un fonte. Ohimè! Ohimè!“) Die fast wörtliche Übernahme der Musik sollte aber nicht als Argument gegen den anrührenden Schluss von Puccinis Messe verwendet werden: Parodien (in beiden Richtungen, von der geistlichen in die weltliche Sphäre und umgekehrt) hat es schon früher gegeben.

Giacomo Puccini ist der Letzte einer mindestens fünf Generationen alten toskanischen Musikerfamilie. Schon sein Ururgroßvater Giacomo Puccini der Ältere war in Lucca Komponist, Kapellmeister, Organist, Musiklehrer gewesen, und Antonio, Domenico und Michele nach ihm ebenso. Hätte Puccini – glaubt Julian Budden – sich dafür entschieden, in Lucca zu bleiben, „so würde er ohne Zweifel den liturgischen Schatz dieser Stadt mit Werken von unvergleichlicher Lebenskraft bereichert haben“.9
Aber Puccini glaubte nur komponieren zu können, wenn er „seine Marionetten auf der Bühne bewegen konnte“, wie er 1920 an den „Turandot“-Librettisten Giuseppe Adami schrieb: „Als ich vor vielen Jahren geboren wurde – vielen, zu vielen, fast vor einem Jahrhundert -, da stupste mich der große Gott mit dem kleinen Finger an und sagte zu mir: Schreib für das Theater, pass gut auf, nur für das Theater! Und ich habe diesen höchsten Rat befolgt.“10 Mit dem Umzug nach Mailand 1880 war es mit der Kirchenmusik ein für allemal vorbei.

 

Anmerkungen und Nachweise:

  1. Das Ordinarium missae besteht aus Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus (mit Osanna und Benedictus) und Agnus Dei. Puccinis Messe ist fünfsätzig, da sie diese Einteilung übernimmt. In der kirchenmusikalischen Tradition ist die Trennung von Sanctus und Benedictus häufig; auch andere kleingliedrigere Formen, etwa Unterteilungen des Gloria, sind möglich.
  2. Nach: Gabriella Biagi Ravenni, Breve nota sul nome della Messa, nachzulesen auf www.puccini.it, der Webpräsenz des Centro studi Giacomo Puccini Lucca
  3. Gemeint ist natürlich der zweite Akt der „Bohème“, der in Paris, auf einem belebten Platz im Quartier Latin spielt.
  4. Vgl. Julian Budden, in: Puccini al bivio, nachzulesen auf www.puccini.it  – „…una struttura imponente che, se non è proprio espressione di una sensibilità religiosa profonda, mostra almeno un notevole dispiegamento di energia musicale.“
  5. „Il Credo è di nuova fattura del sig. Puccini: è un pezzo scritto con molto senno, e dove spicca un bello strumentale: vi sono dei pensieri originali, e l’incarnatus et crucifixus non si giudicherebbero opera di un maestro esordiente, ma di provetto scrittore“, schrieb der anonyme Kritiker der „La Provincia“ vom 13. Juli 1878, nachzulesen auf www.puccini.it. – Hier handelt es sich offenbar um eine Voraufführung des Credo. Die Uraufführung der gesamten Messe 1880 war sehr erfolgreich, trotzdem wurde das Stück lange Zeit nicht aufgeführt.
  6. Ein wunderbares Beispiel ist die Rosenarie der Susanna aus dem „Figaro“, die hier näher erläutert wird.
  7. Möglicherweise stammt diese Textierung auch vom Herausgeber meines Klavierauszuges. Im Musikschrifttum heißt es immer wieder, auch Schubert habe den Text „unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam“ fortgelassen. Ich werde der Sache noch nachgehen.
  8. Ein Überblick über die Zeitdauern in dieser und anderen Messkompositionen findet sich hier.
  9. Julian Budden, in: Puccini al bivio, nachzulesen auf www.puccini.it  – „Se avesse scelto di rimanere a Lucca, avrebbe senza dubbio arricchito il tesoro di musica liturgica della città con lavori di incomparabile vitalità.“ (Vgl. den Titel des Aufsatzes: „bivio“, auf deutsch „Scheideweg“.)
  10. Giuseppe Adami, Giacomo Puccini – Epistolario, Mailand 1928, S. 259 f. – „Ho quel gran difetto di scriverla solamente quando i miei carnefici burattini si muovono sulla scena. Potrei essere un sinfonico puro. Ingannerei il mio tempo e il mio pubblico. Ma io nacqui tanti anni fa, tanti, troppi, quasi un secolo… e il Dio santo mi toccò col dito mignolo e mi disse: ‚Scrivi per il teatro: bada bene – solo per il teatro‘ e ho seguito il supremo consiglio.“