Haiku der Woche 46 (15. November 2020) – Ein Herbstabend mit Issa
An einem Abend im Herbst
ist es nicht leicht,
ein Mensch zu sein.
Was Kobayashi Issa vor über 200 Jahren schrieb, gilt entschieden auch für uns, die wir in der Pandemie leben und durch den Lockdown mehr als je auf uns selbst geworfen sind. Der beneidenswerte Issa hatte ja noch einen fröhlichen Ausweg, denn:
In die Kneipe
darf er nicht hinein,
der Herbstabend.
Für uns aber sind die Gasthäuser geschlossen und verriegelt… Also setzen wir uns im Mantel in den Garten, auf der Suche nach der Wärme, die die letzten Sonnenstrahlen hinterlassen haben mögen. – Was ist das für ein Insekt, das da lärmt?
Werde nicht heiser,
du Heimchen! Morgen ist
immer noch Herbst.
Jetzt ist es dunkel, jetzt ist es ruhig geworden. Zwischen den düster ziehenden Wolken glitzern die ersten Sterne.
Der weite Himmel,
die weite Erde –
auch der Herbst vergeht.
Inzwischen ist es aber wirklich bitterkalt. Lass uns hineingehen. Immerhin:
Noch ein Jahr…
ich bin nicht gestorben…
Herbstabend.
Das erste Gedicht ist eine Übersetzung von Dietrich Krusche, alle anderen wurden von mir selbst aus einer englischen Übertragung übertragen – haben sich also sicherlich etwas von den japanischen Originalen entfernt. Beide, die japanischen Originale und die englischen Übertragungen, finden sich auf der Homepage des „HaikuGuy“ David G. Lanoue.
Der HaikuGuy erläutert auch das Insekt, von dem im dritten Gedicht die Rede ist: „A katydid (kirigirisu) is a green or light brown insect, a cousin of crickets and grasshoppers. The males possess special organs on the wings with which they produce shrill calls. Although katydid is the closest English equivalent, many translators use the more familiar ‚grasshopper‘ and ‚cricket‘.“
Weitere Haiku von Kobayashi Issa gibt es hier.