Sieben bemerkenswerte Phobien und Manien

Was Klaustrophobie ist, wissen die meisten, was Arachnophobie ist, wissen viele. In Kate Summerscales dringend empfehlenswertem „Buch der Phobien & Manien“ geht es aber um mehr, zum Beispiel um Spezialitäten wie Bambakomallophobie und Koumpouno-phobie. In 99 Kapiteln berichtet sie mit Übersicht und offenbar hervorragend recherchiert, auf jeden Fall aber sehr amüsant von allen möglichen und unmöglich scheinenden Ängsten und krankhaften Leidenschaften, und von den Versuchen, sie zu heilen.

Ich habe sieben Phobien und Manien ausgesucht, die mich besonders faszinieren, weil ich sie in (zu vernachlässigenden) Ansätzen auch in mir wiederfinde, und füge jeweils eine Kostprobe von Kate Summerscales Kommentaren an. Weil ich mich dabei auf das Anekdotische und Unterhaltsame konzentriert habe, möchte ich mich vorab entschuldigen bei denjenigen, die in ernster und bedenklicher Form mit einem dieser Probleme zu tun haben. Immerhin habe ich diesen Beitrag nicht – wie in diesem Bereich meiner Homepage eigentlich fast zu erwarten gewesen wäre – „Sieben Phobien und Manien für die einsame Insel“ genannt.

 

 

1. Arithmomanie (krankhafte Lust am Zählen)

„Im  Jahr 1894 überwies Dr. Strangman Grubb aus Ealing eine seiner Patientinnen an den englischen Psychiater Daniel Hack Tuke. Sie litt unter dem Zwang, immer zählen zu müssen, bevor sie etwas tat. Ob sie sich nun im Bett umdrehte, zum Frühstück hinsetzte oder eine Teekanne anhob, sie musste zuvor jedes Mal bis zu einer bestimmten Zahl gezählt haben. Oft sah sie sich genötigt, ihre Atemzüge und jeden Schritt, den sie auf offener Straße tat, zu zählen. Manchmal frage sie sich, erzählte sie Dr. Tuke, ob ihr Zählen sie vor schlimmen Gedanken schützte. Zur gleichen Zeit interpretierte Sigmund Freud in Wien das obsessive Zählen von Dielen und Stufen bei einer jungen Frau als den Versuch, sich von ihren erotischen Fantasien abzulenken.“

 

 

2. Graphomanie (Schreibzwang, unstillbare Lust zu schreiben)

„Der ungarische Kritiker Max Nordau lehnte die neue Generation graphomanischer Autoren ab und beklagte sich, dass diese Männer einen unstillbaren Wunsch zum Schreiben hätten. Er beschuldigte unter anderem Richard Wagner, nur um des Schreibens willen zu schreiben und sich in ‘blödsinnigem Kalauern’ zu ergehen, bei denen Wörter nur neue Wörter hervorbrächten.“
Zur Illustration hier etwas O-Ton Richard Wagner:
„Weia! Waga! Woge, du Welle,
walle zur Wiege! Wagalaweia!
Wallala, weiala weia!
Garstig glatter glitschiger Glimmer!
Wie gleit‘ ich aus! Mit Händen und Füssen
nicht fasse noch halt‘ ich das schlecke Geschlüpfer!“

 

 

3. Oniomanie (Kaufsucht, Kaufzwang)

„Epidemiologische Studien in den 1990er Jahren ergaben, dass zwischen zwei und acht Prozent der Bevölkerung kaufsüchtig waren, die meisten davon junge Frauen mit verhältnismäßig niedrigem Einkommen. Onlineshopping hat das zwanghafte Einkaufen noch erleichtert.
Abraham Lincolns Frau Mary zum Beispiel war kaufsüchtig. Während der Präsidentschaft ihres Mannes von 1861 bis 1865 gab sie so viel Geld für die Renovierung der privaten und öffentlichen Räume im Weißen Haus aus, dass der Kongress zwei Gesetze verabschieden musste, um die Kosten zu decken.“

 

 

4. Pediophobie (Angst vor Puppen)

„Eine Puppe, der ein Mensch Leben beimisst, kann auf andere besonders verstörend wirken. Im London der 1920er Jahre war die nur in Männerkleidung auftretende, millionen-schwere Motorbootrennfahrerin Marion Barbara ‘Joe‘ Carstairs stets mit einer dreißig Zentimeter großen Lederpuppe namens Lord Tod Wadley unterwegs. Sie ließ ihr in der Savile Row Kleider maßschneidern und eröffnete für sie ein Konto bei der Coutts Bank. ‘Wir sind wie eins’, pflegte sie zu sagen. ‘Er ist ich, und ich bin er.’ Carstairs kaufte sich in den 1930er Jahren eine Insel der Bahamas. Die 500 Einwohner gewöhnten sich schnell an den Anblick ‘der Chefin’, wie sie auf einem Motorrad durch die Gegend fegte, Wadley wie ein Voodoo-Fetisch an ihrer Seite. Der Alterungsprozess der Puppe brachte es mit sich, dass ihr Gesicht schwarz wurde und Risse bekam. Carstairs Freundinnen bekamen Angst vor ihr. ‘Er sieht so lebendig aus’, erklärte eine von ihnen, ’wie etwas Totes.‘“

 

 

5. Sedatephobie (Angst vor der Stille)

„Die Angst vor der Stille greift immer mehr um sich, je lauter sich die Welt präsentiert. – Ein Experiment testete 2013 die Auswirkungen unterschiedlicher Geräusche auf die Gehirne von Mäusen. Die Forscher teilten die Mäuse in vier Gruppen ein und setzten eine Gruppe für zwei Stunden pro Tag weißem Rauschen aus, eine zweite den Schreien von Mäusebabys, die dritte Klaviermusik von Mozart und die vierte Gruppe der Stille. Die restliche Zeit hörten die Mäuse die üblichen Hintergrundgeräusche des Labors. Das Ergebnis war, dass die von Stille umgebenen Mäuse mehr Gehirnzellen ausbildeten als die anderen Gruppen.“

 

 

6. Taphephobie (Angst davor, lebendig begraben zu werden)

„Lebendig begraben zu werden, war zu früheren Zeiten eine durchaus reale Gefahr. Im 18. Jahrhundert wurden immer wieder Särge ausgegraben, die bei Ihrer Öffnung Leichname mit zerrissenen Nägeln, zerkratzten Knien und blutigen Ellbogen offenbarten.
In der Folge griff in Deutschland die Taphephobie immer mehr um sich. Herzog Ferdinand von Braunschweig ließ sich 1792 einen Sarg nach Maß anfertigen mit Fenster, einem Luftloch und einem Schloss, das von innen geöffnet werden konnte. In England wurden Sicherheitssärge entworfen, nicht nur mit Fächern für Essen, sondern auch für Wein. Manche Taphephobiker sorgten dafür, dass sie überhaupt nicht begraben wurden. Alfred Nobel, der Erfinder des Dynamits, bestimmte, dass nach seinem Tod seine Blutgefäße geleert und sein Körper verbrannt werden sollte. Der Komponist Frederic Chopin hinterließ genaue Anweisungen, nach denen sein Körper vor der Bestattung aufzuschneiden sei.“

 

 

7. Tetraphobie (Angst vor der Zahl 4)

Von der Triskaidekaphobie, der Angst vor der Zahl dreizehn, ist auf diesen Seiten bereits die Rede (hier). In ostasiatischen Ländern ist häufiger die Angst vor der Zahl vier, „da in mehreren Sprachen (zum Beispiel Mandarin, Kantonesisch, Koreanisch und Japanisch) das Wort für ‘vier‘ ganz ähnlich klingt wie das Wort für ’Tod’. Viele Gebäude in Ostasien überspringen alle Etagen- und Zimmernummern, in denen eine Vier enthalten ist: 4, 14, 24, 34 und so weiter. In einigen Hotels in Hongkong geht es von der 39. gleich zur fünfzigsten Etage weiter. In Taiwan, Südkorea und China enden die Nummern von Schiffen und Flugzeugen selten auf vier, und auch viele chinesische und japanische Restaurants in allen Teilen der Welt vermeiden die Zahl. Bestimmte Kombinationen gelten als besonders unheilvoll: 514 klingt auf Mandarin wie ‘ich möchte sterben’.
In einer 2021 veröffentlichen Analyse aller Todesfälle in den USA zwischen 1973 und 1998 wies ein Forscherteam nach, dass Amerikaner asiatischer Herkunft mit 13 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit am vierten Tag eines Monats an Herzversagen sterben als an jedem anderen Tag.“

 

 

 

 

Die deutsche Ausgabe von Kate Summerscales „Das Buch der Phobien & Manien – Eine Geschichte der Welt in 99 Obsessionen“ ist erschienen bei Klett-Cotta. Die zu Beginn dieses Beitrags erwähnten Phobien sind Klaustrophobie, also die Angst vor engen oder geschlossenen Räumen, Arachnophobie, die Angst vor Spinnen, Bambakomallophobie, die Angst vor oder Abneigung gegenüber Watte, und Koumpounophobie, die Angst vor Knöpfen. Das Wagner-Zitat stammt aus dem ersten Bild seines Musikdramas „Das Rheingold“.