Siebenmal „Verismo“ für die einsame Insel
Einigermaßen erstaunt sah ich im Oktober 2017 in Lucca dieses Werbeplakat für die neue Opernsaison. Kein einziges gängiges Repertoirestück, nur Italiener, vier von vier Opern (jedenfalls aus deutscher Sicht) ziemliche Raritäten:
Mindestens zwei der vier Opern der neuen Stagione gelten als „veristisch“. Aber der Begriff „Verismo“ als Bezeichnung für einen bestimmten Operntyp, der sich mehr als andere dem „Wahren“, dem Wirklichen, dem Realen verschrieben habe („vero“: wahr), ist ja unsinnig. Das betrifft einerseits das Grundsätzliche: „Einer realistischen oder naturalistischen Musik entspräche etwa die Idee einer Photographie mit den Mitteln der Musik. Dass diese Mittel weitgehend untauglich sind, bedarf keines Beweises.“ (Egon Voss) Andererseits gibt es keinerlei Einigkeit darüber, welche Komponisten oder welche Opern zum „Verismo“ zählen, welche nicht. Puccini z.B. ist für den einen Musikschriftsteller „das Oberhaupt der veristischen Schule“, für den anderen hat gerade er einen Bruch „mit den Überbleibseln der von der veristischen Schule verschmutzten italienischen Oper“ vollzogen.
Hier verstehe ich unter „Verismo“ (die Anführungszeichen sind wichtig) ganz pragmatisch „italienische Oper in den Jahren vor und nach 1900“, also etwa die Lebenszeit Puccinis. Und da vom alten Verdi und von Puccini (deren Ausnahmerang man nicht bestreiten kann) nur jeweils ein Stück dabei sein darf, kommen auch andere zu ihrem Recht.
(Übrigens stammen drei der Operntexte von Luigi Illica, der auch an den bekanntesten Puccini-Opern beteiligt war: Er war der erfolgreichste Librettist seiner Zeit, und vielleicht nicht nur dieser.)
- „L’altra notte in fondo al mare“, Arie der Margherita aus der Oper „Mefistofele“ von Arrigo Boito – Gretchen im Kerker, verwirrt, von Selbstvorwürfen gequält. So gut, so inspiriert war der Komponist Boito nie vorher und nie nachher.
- „Ebben? Ne andrò lontana“, Arie der Wally aus der Oper „La Wally“ von Alfredo Catalani, 1892 – Sie will nicht den Mann heiraten, den ihr Vater für sie bestimmt hat. Weit fort wird sie gehen. (Mehr zu „La Wally“ hier.)
- „Dal labbro il canto“, Arie des Fenton aus der Oper „Falstaff“ von Giuseppe Verdi, 1893 – Nachts im Park, der Mond scheint, ein junger Mann singt von seiner Liebe, mit fast unsinnigen Worten, nicht viel mehr als den üblichen Liebesphrasen, und mit Musik, ebenso sparsam wie vollkommen.
- „Come un bel dì di maggio“, Arie des Andrea Chénier aus der gleichnamigen Oper von Umberto Giordano, 1896 – Der Dichter Andrea Chénier erwartet im Kerker seine Hinrichtung. Er versucht ein letztes Gedicht, aber „vielleicht wird, bevor ich diese Strophe vollendet habe, schon der Scharfrichter kommen und mir das Ende verkünden“. (Er kommt auch, aber vorher erscheint die Frau, die mit Chenier in den Tod gehen wird: Der Schluss der Oper ist so packend und grandios, dass man nicht stillsitzen kann…)
- „Inno al sole“, Eingangschor aus der Oper „Iris“ von Pietro Mascagni, 1898 – Dieser „Sonnengesang“ wurde zur Hymne der Olympischen Spiele 1960 in Rom.
- „Poveri fiori“, Arie der Adriana Lecouvreur aus der gleichnamigen Oper von Francesco Cilea, 1902 – Das Lamento der Adriana. Sie riecht an den Blumen, die sie für ein Abschiedsgeschenk ihres Liebhabers hält, doch der Strauß ist vergiftet…
- „O Luigi! Luigi! Bada a te“, Duett von Giorgetta und Luigi aus der Oper „Il Tabarro“ von Giacomo Puccini, 1918 – Ein Schleppkahn auf der Seine, ein Mord aus Liebe und Eifersucht. Das Leben, der Fluss, der Kreislauf allen Seins – und das beeindruckendste Ostinato der Operngeschichte:
Eine ausführliche Würdigung der Nummer 7, des Duetts aus „Il Tabarro“, findet sich hier.