Musik aus der Heimat
Das 
zweite Violinkonzert von Karol Szymanowski
(
Sieben unerhört hörenswerte Violinkonzerte V)

 

 

 

Einleitung

Schon der für die Aufführungen beider Werke geforderte Orchesterapparat ist unterschiedlich. Für sein Violinkonzert Nr. 1 von 1916 verlangt Karol Szymanowski dreifaches Holz mit Bassklarinette, Piccolo, Englischhorn, Kontrafagott, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen und Tuba, Klavier, Celesta und 2 Harfen, 12 erste, 12 zweite Violinen, 8 Bratschen, 8 Celli, 6 Kontrabässe, dazu ein großes Arsenal von Perkussionsinstrumenten. Sechzehn Jahre später begnügt er sich mit doppeltem Holz, Blech ähnlich wie in ersten Stück (aber nur zwei Trompeten), weniger Schlagzeug, Klavier, die Streicher ohne genaue Zahlenangabe.

1916 beginnt der Komponist mit einem raffinierten Streicherklang (mit Dämpfer und ohne Dämpfer, arco und pizzikato-Akzente, sul ponticello und flautando, vierfach geteilte erste Violinen) und mit einem hell strahlenden und schillernd dissonanten Akkord, der von innen heraus belebt ist. Klavier und Oboen spielen sich ein kurzes Motiv zu, dann setzen einige merkwürdige Motive ein, Vogelgezwitscher vielleicht, ein eigenwilliges Waldweben. 

1932 erklingt ein a-Moll-Akkord, mit Grundton und Quinte in den Kontrabässen, dem bewegten Dauerton e in den geteilten, komplementärrhythmisch verschobenen Bratschen, und Tremoli in den ebenfalls geteilten zweiten Geigen. Erst die zweitaktig wiederholte Begleitfigur in den Klarinetten bringt den Terzton c, Nebennoten trüben und verunklaren das a-Moll ein wenig. Im siebten Takt setzt dolcissimo und espressivo die achttaktige Melodie der Sologeige ein, die noch in ihrem Schlusston, als A-Dur erreicht ist, vom Solohorn abgelöst wird. 

1916 und 1932 erklingt eine ausgedehnten Klangfläche im pp und ppp – die im zweiten Werk zur Begleitung, zum Hintergrund einer Melodie wird, im ersten Werk aber eher wie die Sache selbst erscheint.

Ja, Szymanowskis Violinkonzert Nr. 2  lehnt sich mehr an überkommene Gestaltungsmittel an, anders als das im Jahre 1916 ohne irgendein greifbares Vorbild (und ohne unmittelbare Nachfolger) komponierte erste. In den ersten Jahren des Jahrhunderts waren die spätromantischen Werke von Glasunow, Sibelius, Reger, Elgar, Nielsen entstanden; etwa gleichzeitig mit Szymanowskis erstem ist das Konzert von Frederick Delius komponiert, ebenfalls ein Ausnahmewerk – aber eine völlig andersgeartete Ausnahme. (Hier geht es zu einer Würdigung des Delius-Konzerts.) 

Nein, dieses Stück hat nicht die überbordende Fülle des Vorgängers, hat nicht dessen Pracht und dessen Glanz, führt uns nicht in diese traumhaften Bezirke der Ekstase. Es ist anders als das frühere (wenn auch nicht, wie oft zu lesen, „ganz anders“ oder „völlig anders) – und wenn man ihm gerecht werden oder es schätzen lernen will, darf man es nicht aus der Perspektive des Schwesterwerks betrachten und zu erleben versuchen, muss sich vielmehr damit auseinandersetzen, dass Szymanowski nicht mehr der war, der er 1916 gewesen war, dass sich der Mensch und dass sich die Zeit geändert hatten. 

 

 

Entstehung 

Verwaltung und Bürokratie waren seine Sache nicht. Nur drei Jahre, nachdem er das Amt des Hochschulpräsidenten der Warschauer Musikhochschule übernommen hatte, gibt Karol Szymanowski entnervt auf und zieht sich zurück. Die folgenden Jahre von 1932 bis 1935 verbringt er ganz überwiegend in Zakopane, einer der südlichsten Städte Polens (etwa auf der geographischen Breite von Nürnberg) und die wohl höchst gelegene – ein Luftkurort und auch heute noch beliebtes Touristenziel. Szymanowski mietet dort die Villa Atma und atmet auf (Atma ist ein Sanskrit-Wort für Selbst, Seele, Atem). 

Die Villa Atma wird zu seinem Refugium, seinem Zuhause, er nutzt sie sowohl fürs Komponieren, macht sie aber auch zum geselligen Zentrum. „Man traf sich zu ‚Orgien‘“, erzählt Danuta Gwizdalanka, diese beschränkten sich aber wohl auf Alkoholgenuss und endlose Gespräche, vom gelegentlichen Besuch junger Männer einmal abgesehen.

Zu Besuch kommt auch, im Sommer 1932, Szymanowskis alter Freund Paul Kochanski, ein international erfolgreicher Geiger, der schon das erste Konzert des Komponisten zur Uraufführung gebracht hatte und von der Aussicht auf ein Nachfolgewerk begeistert ist.

In den Sommermonaten 1932 arbeiten Paul und Karol intensiv an dem neuen Projekt, bis zur Erschöpfung. Am 6. September schreibt der Komponist an Zygmunt Mycielski:  „Paul  hat ein ganzes (zweites) Violinkonzert aus mir herausgequetscht, natürlich bis jetzt nur als Skizze, Ich habe es in weniger als vier Wochen geschrieben, also kannst du dir vorstellen, wie ich habe arbeiten müssen und wie müde ich bin.“

„Skizze“ heißt wohl Klavierskizze mit Instrumentationsangaben – wie weit diese Skizze gediehen ist, ist (mir) nicht bekannt. Bis zur Fertigstellung der Partitur vergehen immerhin noch 14 Monate. Szymanoswki hatte – weil er z.B. die ersten Aufführungen seiner vierten Sinfonie, der Symphonie concertante, betreuen musste – wenig Zeit und wohl auch nicht immer Lust zum Instrumentieren.

Das merkt man der Partitur nicht an. Die Ausarbeitung des Orchesterparts ist bewundernswert und faszinierend, so bewundernswert, dass Joseph Kerman spotten konnte: „The orchestration in [Szymanowski’s] two violin concertos is about the richest to be found in the concerto repertory. The orchestral particularity here is color rather than mass or power or discourse – kaleidoscopic color. The problem with these unquestionably distinguished works is not that you can’t hear the violin; you always can; but the orchestra is always so much more interesting.”

Den Solopart entwickelt Szymanowski gemeinsam mit Kochanski, der auch die große, mehr als zweieinhalbminütige Kadenz komponiert, die in der Mitte des Werkes steht und die beiden Großabschnitte verbindet. (Vielleicht war ihm das Stück, das in manchen Interpretationen unter zwanzig Minuten dauert, zu kurz erschienen.) Partitur und Klavierauszug vermerken Kochanskis Beitrag: „Cadenza (Pawel Kochanski)“ und „The solo part in collaboration with Paul Kochanski“. Der Geiger schaffte noch die Uraufführung, in Warschau am 6. Oktober 1933, mit dem Warschauer Philharmonischen Orchester unter Grzegorz Fitelberg (der auch den Klavierauszug herstellte). Kochanski war aber bereits gezeichnet von seiner Krebserkrankung, spielte im Sitzen und offenbar unter ständigen Schmerzen. Nur ein Vierteljahr später starb er in New York. (Unter den Sargträgern waren Arturo Toscanini, Jascha Heifetz, Vladimir Horowitz, Fritz Kreisler und Leopold Stokowski.) Szymanowski selbst ehrte seinen Freund und Arbeitspartner mit der anrührenden Widmung: „A la mémoire du Grand Musicien, mon cher et inoubliable Ami, Paul Kochanski“. 

 

 

Folklore

Zakopane bedeutete für Szymanowski noch mehr und anderes als die Möglichkeit zu Rückzug und Geselligkeit. Sein Sehnsuchtsort liegt zu Füßen der Hohen Tatra, deren Gipfel bis 2500 Meter aufragen. Die Gegend wird Podhale genannt („Almenvorland“), sie ist ein Siedlungsgebiet der Goralen, einer ethnischen Gruppe, die für eine reiche Folkloretradition bekannt ist. Die Folklore ist heute sicher vor allem eine Einnahmequelle in einem beliebten Touristenort – für Szymanowski war sie hochbedeutend: ”Erst hier habe ich mich selbst gefunden“. Seine Selbstfindung hatte allerdings einen eindeutigen politischen Hintergrund. 

„Die Landschaft der Tatra“ war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts „ein Refugium für die verletzten nationalen Gefühle; polnische Künstler verklärten sie zu einem mystischen Symbol des Widerstands gegen die Fremdherrschaft. Hier ließen sich die Literaten des Jungen Polen nieder, hierhin zog es auch die gleichnamige Gruppe junger Komponisten, die sich 1905 in Berlin gegründet hatte und deren namhaftester Vertreter Karol Szymanowski war.“ (Wiki) Für Szymanowski eröffnete die Musik der Podhale-Region „die Lösung eines Problems, vor dem er zu Beginn der 1920er Jahre gestanden hatte, als er beschloss, eine nationale Musik zu schaffen, die jedoch weitmöglichst von dem in Polonäsen, Krakowiaks und Mazurken verwurzelten Stereotyp entfernt sein sollte“ (Danuta Gwizdalanka). „Das Volkstümliche der Ukraine“ – so Szymanowski selbst, der ja auf dem Gebiet der heutigen Ukraine geboren wurde – „hat mich nicht gerührt, während die Tatra in mir sofort das Gefühl der Verwandtschaft mit dieser Folklore erweckt hat“.

Besonders fasziniert war Szymanowski vom Violinspiel Bartuś Obrochtas, eines bekannten Goralen-Musikers. Jerzy Rytard (Schriftsteller und einer der Librettisten von Szymanowskis Ballett Harnasie) berichtet eindrucksvoll von einem gemeinsamen Besuch bei den Obrochtas: „Bartuś sah großartig aus: Sein langes, graues Haar fiel ihm über die Stirn, er spielte mit geschlossen Augen, schwankte rhythmisch hin und her. Er wirkte entrückt und nahm, während er spielte, nichts mehr wahr von seiner Umgebung. Der alte Musiker war beeindruckend, wie er uns so majestätisch seine Virtuosität demonstrierte. Karol hinkte in dem großen Raum hin und her, mit der unvermeidlichen Zigarettenspitze in der Hand, in der die Zigaretten, eine an der anderen angesteckt, nie erloschen, und sah den Musikern auf die Finger, spitzte die Ohren bei den besonderen Stellen, verschlang diese seltsamen, primitiven Melodien und zerlegte sie in ihre einzelnen Elemente.“

Alistair Wightman, der dem Leben und Werk Szymanowskis eine deutlich über 500 Seiten starke Studie gewidmet hat, nannte nun gerade das zweite Violinkonzert ein „final tribute to the mountaineers“ von Zakopane.

 

Das Hauptthema zumindest des ersten Großabschnitts, wenn nicht des ganzen Werkes, ist ein wahres Chamäleon. Seine ersten beiden Auftritte zeigen es in ganz unterschiedlichem harmonischen Zusammenhang. 

Wenn man die Melodie in Takt 7 ff. auf eine Tonleiter auf A bezieht, ist das insistierend angespielte g’ die kleine Septime; wenn man die Melodie in Takt 17 ff. auf eine E-Tonleiter bezieht, ist das prominente ais’‘ die erhöhte, „lydische“ Quarte. Kleine Septime und erhöhte Quarte sind typisch für die Volksmusik der Goralen. In der ersten der 22 Mazurken, die Szymanowski seit 1924 schrieb, tritt diese Tonleiter überdeutlich hervor:

Offenbar hat Szymanowski in seinem zweiten Violinkonzert keine vollständige Melodien übernommen, sondern sich von einzelnen Gestaltungsmitteln der Musik der Goralen inspirieren lassen (die er ja „in ihre einzelnen Elemente zerlegt“ hatte – s.o.). Er hat sich dazu nicht detailliert geäußert und gelassen erklärt, die Folklore sei für dieses Stück „ein bedeutsames Düngemittel“ gewesen. Sicher ist, dass er in diesem Moment seines Lebens und Schaffens die Folklore seiner (Wahl-) Heimat als hochbedeutsam empfand („ich habe mich selbst gefunden“) und seine eigenen Kompositionen aus diesen Jahren als in ihr gegründet auffasste und aufgefasst wissen wollte.  

 

 

Musik

In seinen Schriften aus den Zwanzigerjahren warnt Szymanowski davor, unter „Form“ das zu verstehen, was die akademische Lehre als Modelle präsentiert. Es gibt seiner Auffassung nach keine prototypische Sinfonie, das individuelle Werk ist das Ergebnis einer einzigartigen und unverwechselbaren kreativen Idee und hat eine einzigartige Form. Form und Inhalt können nicht getrennt werden; wenn man von einem Künstler sagt, er sei ein Meister der Form, aber inhaltlich schwach, sagt man nichts anders als: Er schreibt schlechte Musik. „Die Konstruktion eines Kunstwerks hängt davon ab, die Proportion zwischen einzelnen, unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Elementen zu schaffen und zu bewahren.“ 

Der Meister selbst würde sich also über die vielen Versuche, seine Werke mit Hilfe traditioneller Formkategorien zu beschreiben, sehr geärgert haben. Auch für die beiden Violinkonzerte gibt es viele, viele analytische Bemühungen, die überkommenen Modelle wiederzufinden, sie also als Varianten von Sonatenform, Rondo, Variationszyklus usw. zu beschreiben. Diesen Weg möchte ich nicht gehen: Ich beschränke mich auf eine Grobgliederung und schließe einen Durchgang durch das Stück an, der bei der einen oder anderen besonders interessanten und hörenswerten – vielleicht: staunenswerten – Stelle verweilt.

 

Paul Kochanskis Kadenz liegt in der Mitte des Konzertes und teilt dieses in etwa zwei gleich lange Großabschnitte. (Das Stück dauert in der – ausgezeichneten – Interpretation durch Lydia Mordkovitch mit dem BBC Philharmonic unter Vassily Sinaisky 21 Minuten; die Kadenz beginnt bei 9:00 und dauert gute zweieinhalb Minuten.) Beide Großabschnitte sind dreiteilig, beide Großabschnitte haben eine mittlere Andante-Episode. Also etwa:

I
a – Moderato molto tranquillo (T. 1 – 187)
b – Andante sostenuto (T. 188 – 255)
c – Poco più, animato (T. 256 – 284)

Kadenz (T. 285 – 372)

II
a – Allegramente molto energico (T.373 – 514)
b – Andante molto tranquillo (T. 515 – 550)
c – Tempo I, allegramente deciso (T. 551 – 686)

Diese Übersicht darf allerdings nur einer ersten Orientierung dienen: Sie ist ungenau und suggeriert eine formale Stringenz, die das Stück nicht hat und nicht haben will. Dass Ia 187 Takte braucht, Ic nur 28 Takte lang ist, will nicht recht zu diesem Gliederungsversuch passen, ebenso der Abschnitt nach Takt 443, der schon vor dem Andante molto tranquillo eine Verlangsamung des Tempos bringt. – Gestützt wird diese Gliederung freilich durch die zum Einsatz kommenden Themen. Ia und Ic gründen sich auf gemeinsame Themen, vor allem auf das Hauptthema:

Auch IIa und IIc haben gemeinsame Themen, vor allem das Tanzthema:

 

Die ersten knapp 40 Takte bringen das Hauptthema fünfmal, immer auf anderen Tonstufen, nie gleich, immer mit kleinen und größeren Veränderungen, immer aber mit sanfter Emphase, immer dolcissimo und espressivo. Die begleitenden, raffiniert ausgehörten Klangflächen entfalten sich über ausgedehnten Liegetönen im Bass, die mit stufenweise geführten Übergängen miteinander verbunden werden: Nach 16 Takten A senkt sich der Bass für fünf Takte zum Gis, dann über Fis zu drei Takten E und weiter über D, Cis, H wieder zu A und dann Gis, was sechs Takte beibehalten wird. Erst beim Auftreten eines neuen thematischen Gedankens springt der Bass, zu D. – Die Gestaltung mit Orgelpunkten prägt die Musik insgesamt. Der längste dieser Orgelpunkte, bei 6n20, ist 31 Takte lang. Die ruhige Bassführung bedeutet keineswegs, dass die Musik insgesamt ruhig wäre – die Takte 167 ff. zum Beispiel, 22 Takte über E, bringen einen leidenschaftlichen Höhepunkt.

Der neue thematische Gedanke beginnt übrigens wie die anderen deutlich als Thema hervortretenden Ideen mit einer kleinen Terz, dem Intervall, mit dem das Hauptthema nicht nur beginnt, sondern das es eigentlich ausmacht und bestimmt:

Immer wieder drängt das Hauptthema nach vorn, und immer wieder, wie ein Chamäleon, in einer anderen Gestalt. Takt 73 bringt eine fast bruitistische Variante, fortissimo marcato in der Solovioline, interpunktiert von perkussiven Schlägen des Orchesters (Klavier, Streicherpizzicato, Schlagzeug), ähnlich dann Takt 94, nun mit energischen Akkorden der Sologeige. Die verkürzte und diminuierte Variante ab Takt 116, in Celli und Bässen, wird zum Ausgangspunkt und Vehikel einer groß angelegten Steigerung, die in einer orchestralen Explosion und einer leidenschaftlichen, stürmisch bewegten Präsentation des Themas (in der originalen Gestalt) mündet. Wieder anders zeigt es sich, wenn es sich nach dem lyrischen Mittelteil („Ib“) zurückmeldet, in einer alles Vorangegangene überbietenden orchestralen Klimax, strahlend und großartig.

Paul Kochanskis Kadenz spart das Hauptthema fast vollkommen aus. Sie beschäftigt sich zunächst mit Nebengedanken aus dem ersten Abschnitt („Ia“), erinnert T. 345 an den lyrischen Mittelteil („Ib“), bevor sie mit einer mitreißenden Steigerung zum Allegramente molto energico („IIa“) hinführt.

Das Tanzthema des zweiten Großabschnitts gilt als besonders nah an der Folklore der Goralen: „Nach der Kadenz setzt der Solist mit einem Thema ein, das uns in die adstringierende Klangwelt der Tatra-Bergbewohner führt. In sehr stilisierter Form ist das eine Apotheose des virtuosen Folklore-Stils des Violintrios von Bartek Obrochta. Und wenn dann die Holzbläser auf das Thema losgelassen werden, vermehrt es sich so fruchtbar, dass eine vielstimmige, Dudelsack-artige Kakophonie entsteht.“ (Christopher Palmer) 

Das folkloristische Getümmel wird immer wieder abgebremst und von lyrischen Episoden unterbrochen, vor allem von dem ausgedehnten Andante molto tranquillo („2b“). Wenn dann aber die Tatra-Bergbewohner wieder übernommen haben, erklingt noch einmal – ein besonders eindrucksvoller Moment der gesamten Komposition – auch das Hauptthema, wieder in einer neuen Schattierung.

 

 

Ausklang

Unterschiedlicher kann es nicht zugehen. In seinem ersten Violinkonzert von 1916 lässt Szymanowski den Solisten nach der Kadenz, kurz vor dem Ende des Stückes, für drei Minuten schweigen. Nach einem leidenschaftlichen Ausbruch des Orchesters erklingt im Pianissimo das seltsame Waldweben, mit dem das Stück begonnen hatte. Erst in den allerletzten Takten meldet sich der Solist, den man schon fast vergessen hatte, noch einmal zu Wort. Ganz zurückgenommen, wie traumversunken, dolce ed espressivo erinnert er noch einmal an die eine und an die andere Melodie. Harfe und Horn intonieren ein angehaltenes A, das aber durch dis und f harmonisch unklar bleibt. Ein kurzes Aufflattern in der Klarinette, dann in der Sologeige, ein tiefes A im vierfachen Pianissimo – aus…

1932 schreibt Szymanowski dem Tutti und dem Solisten ein Fortissimo sempre vor und verlangt dann auch noch ein Crescendo molto. Das Orchester und der brillant mit Passagenwerk und Doppelgriffen aufspielende Solist werfen sich die Bälle zu, Motive aus dem Tanzthema des zweiten Hauptteils. Sechs Takte reines A-Dur, dann drei Takte der Schlusston A. Alles grandios und brillant.

Sicherlich ist 1916 Szymanowski der ungewöhnlichere, originellere Schluss gelungen. Aber man kann nicht zweimal auf dieselbe Art originell sein, und der Komponist wollte das ganz offenbar auch gar nicht. Die Szymanowski-Literatur bezeichnet sein zweites Violinkonzert oft und gern als „neoklassisch“. Da dieser Begriff ohnehin unklar und mehrdeutig ist, mag man ihn wohl für dieses Stück verwenden – allerdings nicht im Sinn eines Zurückgreifens auf stilistische und formale Elemente der Vergangenheit (den etwas konventionellen Schluss einmal beiseite gelassen) oder gar auf konkrete Stücke oder Vorbilder. Im Vergleich mit dem Schwesterwerk von 1916 stellt man aber durchaus Tendenzen zu größerer Klarheit der Form und der Harmonik, zu unaufwändigerer Instrumentation, zum Verzicht auf koloristische Effekte fest. Damit schließt sich Szymanowski in der Tat an „neoklassizistische“ Tendenzen an, verliert sich aber nicht in ihnen. Das lyrische Verströmen in langgezogenen Kantilenen, die dramatischen Entladungen sind geblieben. Neu ist die Hinwendung zur Folklore der eigenen Heimat (die ja übrigens das Element spielerischer Virtuosität durchaus kannte). Neu ist auch das Zirkus-Element, der Show-Charakter, die den Beifall geradezu provozierende Gestaltung des Schlusses – eine Verbeugung vor Bartuś Obrochta und vor Paul Kochanski.

 

1934 schrieb Szymanowski: „Ich glaube nicht, dass dieses Werk, das zum Symbol solch schrecklicher Erinnerungen geworden ist, jemals den schwarzen Trauerflor, mit dem es in meiner Seele bedeckt ist, abschütteln kann.“ Nicht nur der Tod Paul Kochanskis belastete die Erinnerung an das Violinkonzert Nr. 2  – wenige Wochen vor Kochanski starb Szymanowskis älterer Bruder Feliks. Der Komponist selbst wurde immer mehr von Geldsorgen und seiner schweren Erkrankung gequält. 1935 verließ er Zakopane, den Sehnsuchtsort, die Heimat, den Platz, an dem er sich selbst gefunden hatte, um nicht mehr zurückzukehren. 

 

 

 

Anmerkungen und Nachweise

 

Dies ist der fünfte Beitrag meines Projektes „Sieben unerhört hörenswerte Violinkonzerte“. Hier geht es zur einer Kurzdarstellung dieses Projekts und zu den anderen Beiträgen.