Zu allem Überfluss…
Das Violinkonzert Siegfried Wagners
(Sieben unerhört hörenswerte Violinkonzerte II)

 

 

 

Vorbemerkungen
Der richtige Schlüssel
Titel, Entstehung, Uraufführung
Mein teures Hümpchen!
Teil, Abschnitt, Satz
Musik der Trauer – Musik des Traums
Das Ideal der Fülle
Ein Violinkonzert ist ein Violinkonzert ist ein Violinkonzert
Ist Hütchen an allem schuld?
Marteau non maitre 
Blick über die Alpen – Blick nach vorn 

 

Vorbemerkungen

Wenn in den folgenden Ausführungen von „Wagner“ die Rede ist, ist immer Siegfried Wagner gemeint. – „5v2“ bedeutet „5 Takte vor Studienziffer 2“, „5n5“ „5 Takte nach Studienziffer 5“. – Hier die Angaben zu den benutzten Notenausgaben und der verwendeten Literatur.

Um der Lesbarkeit willen verzichte ich im Textteil auf den Nachweis von Übernahmen und Zitaten; dieser findet sich in den Anmerkungen und Nachweisen am Ende jedes Abschnitts. Auch die Diskussion der vorliegenden Literatur ist dorthin ausgelagert; Ausnahmen habe ich da gemacht, wo die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur hilft, die Ohren für die Musik zu öffnen. – Der folgende Versuch mündet in einen Programmheftartikel für eine zukünftige Aufführung von Wagners Violinkonzert; wer die mühevollen Gedankengänge dorthin nicht nachvollziehen will, findet hier den direkten Weg.

Wenn man sich mit Siegfried Wagner beschäftigt, kommt man nicht an Peter Paul Pachl vorbei, der sich als Regisseur, als Wissenschaftler und als Gründer der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft um das Werk verdient gemacht hat. Pachl hat mir während der Vorbereitung der folgenden Ausführungen viele Anregungen gegeben und in sehr großzügiger Weise bei der Materialbeschaffung Hilfe geleistet. Peter Paul Pachl ist am 15. November 2021 – mitten in der Arbeit, wirklich plötzlich und unerwartet – gestorben. Ihm ist der folgende Beitrag mit großer Dankbarkeit gewidmet – auch wenn ich die von ihm gebahnten und begangenen Wege des öfteren verlasse.  

Anmerkungen und Nachweise zu den Vorbemerkungen

 

Der richtige Schlüssel

Wenn man in der nicht eben reichhaltigen Literatur zu Siegfried Wagner blättert oder surft, scheint es vor allem um drei Fragen zu gehen:
1. die autobiographische Frage: Wie lebte es sich als Sohn eines Übergroßen?
2. die politische Frage: War er ein Nazi oder nicht?
3. die sexuelle Frage: War er schwul oder nicht? (Oder, wenn man das bejaht, welche Zusammenhänge gibt es zwischen der erotischen Disposition Wagners und seinem  künstlerischen Schaffen?)

Ein Beispiel von vielen ist die Ankündigung einer Aufführung in Halle 2018 mit folgenden Zeilen: „Biographisch ist auch Siegfried Wagners 1915 entstandenes Konzert für Violine mit Begleitung des Orchesters. Der Schatten des Vaters war riesig, seine Homosexualität drängte Siegfried Wagner danach, hinter bürgerlicher Fassade kaschiert zu werden. Kurz vor seiner Heirat beendete er sein einziges ‚Konzert für Violine mit Begleitung des Orchesters‘.“

Allzu selten rückt das Werk in den Mittelpunkt, allzu selten geht es um Texte und Musik Siegfried Wagners, vor allem nicht, wenn das Werk einmal nicht als Beleg zu Thesen für oder gegen 1) 2) 3) dienen soll. Mir geht es aber um einen anderen Ansatz, nämlich um die schlichte Frage: Ist Siegfried Wagners Violinkonzert aus dem Jahr 1915 ein hörenswertes Stück, das es verdiente, öfter aufgeführt zu werden?

Eines von Peter Paul Pachls Erweckungserlebnisse war eben das Violinkonzert, das er als als Sechzehnjähriger live im Konzert hörte: „Von diesem Klangerlebnis war ich richtiggehend hin und weg“. Zwanzig Jahre später schreibt er: „Wie die Entschlüsselung von Siegfried Wagners Märchencollage An allem ist Hütchen schuld!, auf die dieses Konzert musikalisch Bezug nimmt, erst in unseren Tagen durch Bruno Bettelheims psychoanalytischen Ansatz in vollem Umfang möglich wurde, so bedarf auch das sinfonische Werk einer Dechiffrierung.“ Denn: „Stets haben Siegfried Wagner seine Werke dazu gedient, Problemstellungen der Umwelt, der privaten Hemisphäre wie der Tagespolitik künstlerisch zu bewältigen.“

Diesen Ansatz respektiere ich, ignoriere ihn aber in den folgenden Versuchen einer Analyse und Interpretation des Violinkonzertes. Eine Musik, die zu ihrer Entschlüsselung der Psychoanalyse bedarf oder als Beleg für psychoanalytische Theorien dienen sollte, hielte ich für misslungen bzw. überflüssig. Auch der musikalische Bezug zu An allem ist Hütchen schuld!, Wagners elfter Oper, soll, jedenfalls zunächst, unbeachtet bleiben: Der Komponist hat das Stück nicht als Parergon zu ‚An allem ist Hütchen schuld!’ oder ähnlich veröffentlicht, sondern als Konzert für Violine mit Begleitung des Orchesters und damit als ein Werk absoluter Musik. Mit einiger Absicht habe ich die Oper erst nach der Formulierung der nächstfolgenden Abschnitte zur Kenntnis genommen.

Und auch die Frage, ob man im Jahr 1915 ein Stück komponieren durfte, das in seinen musikalischen Mitteln eher an 1865 erinnert und das Weltkriegsgeschehen allem Anschein nach vollkommen ignoriert, spielt in dem folgenden Versuch keine Rolle. 1915 ist schließlich auch das Jahr der Uraufführungen der Alpensymphonie und der Regerschen Mozart-Variationen, und obendrein ein Jahr, für das Arnold Schering noch ein „nahezu ungeschwächtes Weiterbestehen des deutschen Konzert- und Theaterbetriebs“ konstatiert.

Anmerkungen und Nachweise zu „Der richtige Schlüssel“

 

Titel, Entstehung, Uraufführung

Der Titel „Konzert für Violine mit Begleitung des Orchesters“ darf nicht überinterpretiert werden: Er ist sehr oft der Titel eines Werkes, das im gängigen Sprachgebrauch als Violinkonzert gehandelt wird, ohne dass sich eine besondere Intention daran ablesen ließe. Das Brahms-Konzert, ein Gipfelwerk der Gattung (und unbedingt vom Typ des sinfonischen Konzertes, das dem Orchester eine gewichtigere Funktion zuweist als die der bloßen Begleitung), ist so benannt, ebenso alle drei Bruch-Konzerte und auch die zeitlich näher an Wagners Komposition liegenden Konzerte von Max Reger (1908) und Felix Weingartner (1911). Gerhard Heldt listet in seinen Untersuchungen zum „deutschen nachromantischen Violinkonzert von Brahms bis Pfitzner“ über zwanzig Werke mit eben diesem Titel auf.

Markus Kiesel dokumentiert das Ineinandergreifen der Entstehungsgeschichte der Oper An allem ist Hütchen schuld! und des Violinkonzerts anhand einer Aufstellung der vorhandenen Daten der Autographen:
22.09.1914 Kompositionsskizze „Hütchen“ I. Akt beendet
Nov.1914 Partitur „Hütchen“ I. Akt beendet
10.01.1915 Kompositionsskizze „Hütchen“ II. Akt beendet
12.04.1915 Partitur „Hütchen“ II. Akt beendet
01.06.1915 Partitur „Violinkonzert“ beendet
11.06.1915 Kompositionsskizze „Hütchen“ III. Akt beendet
26.08.1915 Partitur „Hütchen“ III. Akt beendet

Das Violinkonzert wurde noch im selben Jahr im Verlag Carl Giessel, Bayreuth, veröffentlicht – die rasche Drucklegung von Partitur, Stimmen und Klavierauszug wurde dadurch begünstigt, dass der Sohn des Verlegers, Fritz Giessel, mit Wagner gleichaltrig und sein Spielkamerad gewesen war. Die Uraufführung fand am 6. Dezember 1915 in Nürnberg (im Hercules-Velodrom) statt, es spielten unter Wagners Leitung das Philharmonische Orchester Nürnberg mit dem Ersten Konzertmeister Seby Horvath als Solisten. (Der Kritiker des „Fränkischen Kurier“ war nicht begeistert, merkte aber immerhin an, „der äußere Verlauf des Konzertes, um dessen Zustandekommen die hiesige Ortsgruppe des Richard-Wagner-Verbandes deutscher Frauen sich verdient gemacht hatte“, sei „in jeder Hinsicht glänzend“ gewesen…  hier nachzulesen.)

Anmerkungen und Nachweise zu „Titel, Entstehung, Uraufführung“

 

Mein teures Hümpchen!

Wagner schreibt am 9. Juni 1915 seinem ehemaligen Lehrer Engelbert Humperdinck: 
„Mein teures Hümpchen! Ich ließ dir durch Giessel einiges von mir zusenden. […] Zu allem Überfluß habe ich jetzt ein Violinkonzert komponiert. Was sagst du dazu? Da ich von den Theatern totgeschwiegen werde, muß ich auf dem Wege des Konzertsaals mich einzuschmuggeln versuchen. Herzlichst Dein S.W.“

Am 9. Februar 1916 setzt er nach:
„Mein teures Hümpchen! Man hört ja gar nichts mehr von Euch. […] Vor längerer Zeit ließ ich Dir den Klavierauszug meines Violinkonzertes schicken. Du erhieltest ihn wohl? Im März kommen wir nach Berlin. Treulichst Dein S.W.“

Zu diesem letzteren Zeitpunkt hat Humperdinck den Klavierauszug also seit mindestens acht Monaten im Haus. Möglicherweise machen dem Komponisten die Folgen eines ersten Schlaganfalls zu schaffen, möglicherweise ist er grämlich, weil seine eigene Produktion in dieser Zeit nicht sehr erfolgreich war – sein Schweigen ist jedenfalls kein Zeichen von großem Enthusiasmus für das Werk des ehemaligen Schülers. Jetzt aber muss er reagieren (das Antwortschreiben Humperdincks mit Bemerkungen zum Violinkonzert ist allerdings offenbar nicht erhalten geblieben). Am 18. Februar sendet Wagner eine Postkarte, die nun nicht mehr mit „Mein teures Hümpchen!“ über- und nicht mehr mit „Herzlichst“ oder „Treulichst“ unterschrieben ist:
„‚Mit Euch zu streiten’! – ‚Wandel und Wechsel liebt, was lebt‘ (auch bei Violinkonzerten!!) – Nondum persuasus sed libenter semper discens! Auf Wiedersehen im März! Ich bildete mir ein, ein sehr hübsches zweites Thema in G-Dur zu haben! Dein S.“

Was Humperdinck seinem ehemaligen Schüler schrieb, kann man nur vermuten: Kritisierte er die formalen Eigenwilligkeiten des Stückes, beanstandete er einen Mangel an virtuoser Präsenz des Soloparts!? Die Enttäuschung Wagners jedenfalls ist deutlich, auch wenn er sie hinter Zitaten aus den Musikdramen des Vaters versteckt. Unwillig begibt er sich wieder in die Schülerrolle: „Nondum persuasus sed libenter semper discens!“ (etwa: „Noch nicht überzeugt, aber immer gerne lernend!“). Gekränkt macht er auf eine verkannte Schönheit aufmerksam, auf „ein sehr hübsches zweites Thema in G-Dur“ – offenbar die in der Tat „sehr hübsche“ und anrührende, 5n5 einsetzende Melodie.

Für das, was ich gleich vorzubringen habe, bleibt als Indizien festzuhalten: Wagner gibt nirgendwo Hinweise, dass er sein Konzert als tönende Biographie oder als „Trailer“ für ein Opernprojekt sehen will, die einzige konkrete Anmerkung bleibt in den Kategorien des Konzertsaals und der absoluten Musik. Und er beharrt auf seinem Recht auf Innovation bei einer altehrwürdigen Gattung: Das Spiel um „Wandel und Wechsel auch bei Violinkonzerten“ kann er nicht sparen. 

Anmerkungen und Nachweise zu „Mein teures Hümpchen!“

 

Teil, Abschnitt, Satz

Wagners Konzert ist als ein-sätzig, zwei-abschnittig und vier-teilig beschrieben worden. Ich halte mich an das, was offenkundig ist und auf der Hand liegt.

Das Konzert hat zwei große Hauptabschnitte, einen langsamen, der „sehr mäßig“ beginnt, einen schnellen, „munter“ einsetzenden. Es ist unsinnig, den ersten Abschnitt als „langsame Einleitung“ des zweiten zu bezeichnen: Beide sind etwa gleich gewichtig. In der wunderbaren Einspielung des Konzerts durch Juraj Cizmarovic und das WDR Funkhausorchester unter Marcus Bosch dauert der erste Abschnitt 12’06, der zweite 12’20 Minuten. Die beiden Hauptabschnitte unterscheiden sich im Tempo und im thematischen Material. Es macht also Sinn, von „Sätzen“ zu sprechen: Das Violinkonzert von Wagner ist zweisätzig, ein langsamer und ein schneller Satz sind durch eine kurze Überleitung miteinander verbunden. Mit einem Rückgriff auf den ersten Satz ganz kurz vor dem Ende erreicht der Komponist eine zyklische Form und schließt die beiden grundverschiedenen Sätze zu einem Ganzen zusammen. 

Anmerkungen und Nachweise zu „Teil, Abschnitt, Satz“

 

Musik der Trauer – Musik des Traums

Die Musikgeschichte kennt das Seufzermotiv als einen Sekundschritt, dessen erster Ton etwas betont, dessen zweiter angebunden und unbetont ist. Die acht einleitenden  Orchestertakte bringen einen solchen Seufzer, schmerzlich lang gezogen und über die kleine Sekunde abwärts gleitend, gleich sechs Mal, grundiert von fast durchgehend dissonanten Harmonien.

Der Ausgangspunkt ist also eine Klage. Moll, langsames Tempo, lang gedehnte Seufzer, die absinkende (kleine) Sekunde, die Sologeige in der tiefen Lage der tiefsten Saite über schwer pulsierenden Synkopen in tiefen Bläsern und vierfach geteilten Celli. 

Die Trauer verliert nur zögernd ihre Starre, ein kurzer Aufschwung führt zu einem ersten Höhepunkt (über einen dramatischen neapolitanischen Sextakkord), dann sinkt die Musik wieder zusammen hin zu einer Wiederholung des allerersten Seufzers. Ein harmonisch reizvolles zweitaktiges Motiv

scheint eine Entwicklung in Gang zu bringen, die aber nach wenigen Takten zu dem schwermütigen Hauptthema zurückführt, jetzt in der Klarinette, von der Solovioline in freien Figurationen umspielt. Die Melodie beginnt durch die Instrumente zu wandern, dann erklingt dreimal der lang gezogene Seufzer und beendet diesen Abschnitt, das Kommende vorbereitend:

Das ist die „Musik der Trauer“. 

Erst eine von verminderten Akkorden geprägte kurze Überleitungs-Episode (4n3 – 7n4) führt zu einem Umschlag der Stimmung. Ein einzelner überraschender, auffälliger B-Dur-Takt, dann eine G-Dur-Klangfläche, ruhige Fanfaren in den Hörnern, bewegte Figurationen (die sixte ajoutée einschließend), nach oben ausgreifende Flötentriller, „sehr ruhiges“ Tempo, darüber dann „zart“ ein anrührender Gesang der Sologeige.

Der warme, im Inneren belebte Orchesterklang bleibt nun erhalten, ebenso die friedfertige Harmonik, fast nur G-Dur und C-Dur über dem Orgelpunkt G. Nur ganz gelegentlich, manchmal wie versteckt, wird an die Musik der Trauer erinnert: Bei Ziffer 6 bringt, während die Solovioline die „zarte“ Melodie fortspinnt, das Orchester eine Art Diminution der zwei allerersten Takte, 2v7 kehrt der ausdrucksvolle Seufzer zurück.  

Bei Ziffer 7 erklingt, während die Hauptmelodie sich in Solovioline und Flöte verzahnt, ein Zitat im voraus, eine erste Andeutung der Musik von 4v9. Eine kleine Steigerung führt zu einer neuen Klangfläche, die angedeutete Melodie liegt nun im Horn, die Sologeige begleitet mit Trillern: 

Über einfachen Harmonien steigt die Melodie nach oben, bis sie bei Ziffer 8 von der Solovioline in klangschöner Lage übernommen und weitergeführt wird.

Das ist die „Musik des Traums“.

Die Musik des Traums setzt sich nicht durch: Ziffer 9 kehrt die Musik der Trauer zurück, Ziffer 10 dann die Musik der Überleitungsepisode, jetzt ergänzt durch Trompetensignale, die etwas anzukündigen scheinen. Eine Temporückung („Etwas bewegter“, Ziffer 11) markiert deutlich den Beginn eines neuen Stimmungsumschlags und eines neuen Abschnitts. Ein grüblerisches neues Thema, in polyphone Auseinandersetzungen verwickelt, motivisch-thematische Arbeit mit dem harmonisch reizvollen Motiv von 2v2 in diminuierter Form, unruhige Harmonik, nervöse Figurationen, immer wieder Anspielungen auf das grüblerische Thema, immer wieder neu ansetzende Steigerungen, in die zuletzt auch das erste Thema mit einbezogen wird – eine Durchführung also (von Ziffer 11 – 15), die die Musik des Traums vollkommen ausspart und nur das neu eingeführte Thema und Elemente der Musik der Trauer verarbeitet.

Wieder erklingt die Musik der Überleitung, nun nur für drei Takte, die wieder, zum dritten Mal, einen Wendepunkt markieren: Sie führen zu jenem auffälligen B-Dur-Akkord, der bei Ziffer 5 die Musik des Traums eingeleitet hatte, und der nach dem unruhigen Durchführungsabschnitt nun dasselbe leistet. Gleichzeitig markiert dieser Akkord einen reprisenhaften Moment: Die Musik des Traums breitet sich, auch wenn die Reihenfolge der Themen umgedreht wird, im wesentlichen so aus wie das erste Mal. Die  zwölf Takte 5n15 bis 4n16 entsprechen, mit nur wenigen Freiheiten, den zehn Takten 7n7 bis 4n8; die dreizehn Takte 5n16 bis 2v18 entsprechen, mit nur wenigen Freiheiten, den vierzehn Takten 5n5 bis 1n7.

Bei Ziffer 18 kehrt das Motiv von 2v2 zurück. Es wird zunächst ganz wiederholt, dann nur die Abspaltung der letzten drei Töne. Auf einem aparten Akkord bleibt die Musik stehen, die Solovioline greift die Töne der Abspaltung scherzando auf und leitet mit diesem neuen Motiv über in den zweiten Satz, der aber harmonisch und im Tempo deutlich vom Vorangegangenen abgesetzt ist:

 

Gerhard Heldt bezeichnet Wagners Violinkonzert (in seinen Untersuchungen zum „deutschen nachromantischen Violinkonzert von Brahms bis Pfitzner“) als „eine potpourriähnliche Paraphrase“ – das ist bös gemeint und sachlich falsch. Ein „Potpourri“ reiht eine Folge von Melodien aneinander, die mit kurzen Übergängen miteinander verbunden werden und keine Entwicklung erfahren. Der Reiz eines Potpourris jenseits des – übrigens ja vollkommen legitimen – melodischen Vergnügens mag in der auffrischenden Erinnerung liegen, denn meist sind die Stücke, aus denen es zusammengesetzt ist, bekannt. Auch eine „Paraphrase“ behandelt, oft brillant-virtuos auftrumpfend, bekannte Melodien (jedenfalls tat sie das im 19. Jahrhundert, und tat es gern im Salon oder in seinen Vorzimmern). 

Nichts davon trifft auf Wagners Komposition zu: Der Moment des brillanten Show-Off ist dem Stück völlig fremd, seine Melodien sind nicht bekannt (das Konzert wurde vor der Oper, der einige Themen und Motive entnommen sind, uraufgeführt), schon der Titel ist neutral und verweist nicht auf ein Bezugsstück, wie etwa „Bouquet de mélodies sur ‚Les noces de Figaro‘“ oder „Paraphrase de concert sur Rigoletto“. Von einer bloßen Aneinanderreihung von Melodien kann keine Rede sein: Der bislang behandelte erste Satz des Konzert realisiert, mit einiger Freiheit, die Sonatenhauptsatzform mit Exposition, Durchführung und (verkürzter) Reprise – und damit ein Konzept, das mit Potpourri und Paraphrase nichts gemein hat. Mit ihrer Hilfe entsteht ein vierteiliger Aufbau, in dem zweimal eine Trauermusik von einer Musik des Traums abgelöst – vielleicht: erlöst – wird.

Anmerkungen und Nachweise zu „Musik der Trauer – Musik des Traums“

 

Das Ideal der Fülle

Im zweiten Satz des Violinkonzertes setzt Wagner zehn neue Themen und Motive ein. Ist es ihm gelungen, dieses melodische Gedränge zu einem überzeugenden Ganzen zusammenzuführen, oder ist er der Gefahr eines Potpourris (Heldt) oder Patchworks (Pachl) erlegen – wenn denn Potpourri und Patchwork Gefahren sind… Das Ideal thematischer Ökonomie, dass also eine Komposition in allen ihren Teilen auf ein beschränktes Material zurückführen ließe und von diesen Beziehungen ihren inneren Zusammenhang erfährt, wird von Wagner ganz offenbar nicht geteilt (kann aber ja auch keineswegs beanspruchen, zum überall und zu jeder Zeit gültigen Maßstab des Gelingens eines Musikstücks gemacht zu werden). Doch auch wenn das Ideal der Ökonomie durch ein Ideal der Fülle ersetzt wird – es lässt sich zeigen, dass dieser Satz keineswegs zusammenhanglos ist.

Zum einen fügt Wagner diese Themen mit einem durchgehenden Bewegungszug zusammen. Es gibt keine Überleitungen in ein langsameres Tempo, wie es bei einem Potpourri, das noch die oder andere getragene Melodie vorstellen möchte, der Fall wäre. Diesen nach vorn drängenden Bewegungsimpuls besitzen sowohl die eher tänzerischen Themen (1, 2, 4) als auch die lyrischen (3, 5, 7). Die Themen sind aber nicht nur im Tempo, sondern vielfach auch motivisch miteinander verwandt. Die Themen 1 und 2 zum Beispiel teilen sich ein Motiv, der Beginn von 3 ist nichts anderes als eine „gestauchte“ Version des Beginns von 1.

Zum anderen gibt es eine lose rondoartige Struktur mit einem „Refrain“ und mit „Episoden“ – mit einigen Freiheiten in den beiden ausgedehnten Episoden, die jeweils mehrere Themen und motivisch-thematische Auseinandersetzungen mit dem Hauptthema bringen. 

In e-Moll setzt die Sologeige mit dem Hauptthema des Satzes ein, zunächst nur mit Pizzicati begleitet, die dann ergänzt werden durch das hohe Holz und raffinierte Paukenakzente, die den etwas widerborstigen Charakter der Melodie noch betonen. 

Die Episode I setzt die Paralleltonart G-Dur dagegen, indem sie zunächst drei Themen, die jeweils eine kurze Entwicklung erfahren, aneinanderreiht: das schwungvolle (und etwas konventionell geratene) Thema 2, das lyrische Thema 3 und das volkstanzhafte Thema 4. Bei Ziffer 24 bricht diese Musik plötzlich ab; 30 Takte Orgelpunkt Fis und 29 Takte Orgelpunkt H grundieren eine groß angelegte Steigerung, die das Hauptmotiv (i.e. das Kopfmotiv des Hauptthemas und seine Varianten) und die Volkstanz-Melodie benutzt, um wirkungsvoll in die Wiederkehr des Refrains zu führen, jetzt im Fortissimo des gesamten Orchesters. Die ersten zehn Takte erklingen in der Anfangstonart e-Moll; mit einem plötzlichen harmonischen Ruck springt die Musik dann für die zweiten zehn Takte nach g-Moll, später G-Dur. (Solche harmonischen Überraschungseffekte, vor allem plötzliche Wechsel in eine Medianttonart sind in diesem Satz nicht eben selten.)

Mit einem Fugato über das Hauptmotiv setzt die Episode II ein, die wie die erste neue Themen bringt, zum Beispiel den wunderbaren lyrischen Einfall Thema 5 (bei Ziffer 31), sich aber auch immer wieder mit dem Hauptthema und seinen Varianten und dem Volkstanzthema 4 auseinandersetzt. Dabei sind ein plötzlicher Bruch (bei Ziffer 33) und die nun einsetzende Spukmusik der Ausgangspunkt einer noch umfangreicheren Steigerungsepisode. Die Musik scheint auf einen Finaljubel hinzudrängen, den Wagner aber noch herauszögert: Der erste erreichte Höhepunkt bringt noch nicht die erwartete Wiederkehr des Rondothemas, sondern in jubelndem Fortissimo ganz überraschend eine neue, ebenfalls volkstanzartige Melodie (Thema 9), die zu einem retardierenden Einschub und erst nach diesem das Bisherige noch einmal überbietenden zweiten Höhepunkt führt, zur großartigen Wiederkehr des Hauptthemas, das nun alles Widerborstige verloren hat: G-Dur statt e-Moll, Temporückung hin zu „Lebhaft“, das Kopfmotiv in brillantem Wechsel von hohem Holz (mit zweiten Geigen) und Trompeten. 

Die folgende Rückentwicklung und die sich anschließende Reminiszenz an den ersten Satz gehören zu den eindrucksvollsten Passagen des Stückes: Die Solovioline steigt aus den hohen Lagen des Instruments herab, wird „immer leiser“, das Tempo wird immer mehr zurückgenommen, die Harmonik trübt sich ein (durch die Moll-Subdominante), die Klarinette erinnert wie aus der Vergangenheit an das volkstanzhafte Thema 4. Nun – bei Ziffer 48, „Langsam“ – erklingt die klagende Melodie, mit der Konzert begonnen hatte, 

und dann die beiden traumhaften Melodien, die ihr geantwortet und etwas Anderes versprochen hatten: eine sehr bedeutsame Anspielung auf den ersten Satz (ohne dass man sagen müsste und mit Bestimmtheit sagen könnte, was sie bedeutet). Wagner hat solche thematischen Rückgriffe und Umklammerungen nicht erfunden, hier aber in besonderer, origineller und berührender Weise realisiert.

Dieser Moment der Rückbesinnung, des Innehaltens bleibt ein Moment: Ein überraschender, trugschlüssig einsetzender verminderter Akkord bringt das Hauptmotiv des Satzes wieder zurück, das die 16taktige Stretta dominiert und, gemeinsam mit dem Thema 2, zum brillanten und wirkungsvollen Schluss führt.

Anmerkungen und Nachweise zu „Das Ideal der Fülle“

 

Ein Violinkonzert ist ein Violinkonzert ist ein Violinkonzert

In diesem kurzen Exkurs mühe ich mich mit einigen Selbstverständlichkeiten. – Inwieweit – wo und wie – selbst dem Autor verborgene seelische Vorgänge künstlerische Entscheidungen beeinflussen, darüber kann es nur Mutmaßungen geben. Und auch Selbstaussagen – die im konkreten Fall nicht vorzuliegen scheinen – verpflichten zu nichts, denn der Autor kann irren. Der Autor als Librettist kann freilich eine Opernhandlung entwerfen, die auf der Ereignisebene als auch auf einer Ebene gedanklicher Grundierung, Parallelen zum eigenen Leben enthalten. Der Autor als Komponist kann sodann Handlungselementen musikalische Elemente leitmotivisch zuordnen. Selbstverständlich dürfte aber sein, dass man Parallelen zwischen einer Bühnenhandlung und der Biographie dessen, der sie erdacht hat, nicht überbewerten sollte – sie mögen die Phantasie von Regisseuren inspirieren und tun dies auch legitimerweise. Der prüfende Blick der abendländischen Rationalität dürfte diese Parallelen begrenzt halten. Wenn in einer Bühnenhandlung eine Figur die eigene Mutter tötet und bekannt ist, dass auch der Autor sich mit seiner Mutter nicht gut verstand, ist es sowohl unbeweisbar wie auch trivial und müßig anzunehmen, dass der Schöpfer in seinem Geschöpf seine Mordphantasien auslebte.

Diese Konnotationen müssen keineswegs erhalten bleiben, wenn der Komponist die von ihm erdachten oder gefundenen Themen und Motive in ein text- und handlungsloses Musikstück überführt. Für das Musikstück aber gilt, dass es auch auf der Ebene einer musikalischen Logik überzeugen muss, und ferner, dass sich sein Sinn nicht in den ja ohnehin lose gewordenen Handlungselementen erschöpft. 

Dies vorausgeschickt, betrete ich nun, mit gebotener Vorsicht, die Bühne.

 

 

 

Ist Hütchen an allem schuld?

Ein Mitschnitt von Peter Paul Pachls brillanter Inszenierung von Wagners Opus 11, der Oper An allem ist Hütchen schuld!, liegt auf DVD vor und dokumentiert eindrucksvoll die Bühnenwirksamkeit des selten aufgeführten Stückes. Mich selbst hat vor allem die ideenreiche Instrumentation beeindruckt – und die friedliche Melodie, mit der die Ouvertüre beginnt und der dritte Akt schließt, hat mich tagelang nicht losgelassen…

Die thematischen Beziehungen zwischen Wagners Oper und seinem Violinkonzert sind seit den Arbeiten von Paul Pretzsch gut bekannt: Pretzsch erzählt in seinem 1919 erschienen Buch über „Die Kunst Siegfried Wagners“ die Handlung, indem er die jeweils eingesetzten Themen und Motive nennt – und benennt. Eine Untersuchung der motivisch-thematischen Arbeit, also z.B. ihrer Funktion für die Bildung längerer Abschnitte und Szenen, ist nicht beabsichtigt. 

Das Violinkonzert ist zwischen der Arbeit am zweiten und am dritten Akt entstanden. Damit scheint beides möglich: sowohl dass der Komponist die während der Arbeit generierten Themen in sein Konzert übernahm oder der umgekehrte Fall, dass die für das Konzert gefundenen Themen ihren Weg in den dritten Akt der Oper fanden. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das Konzert mit neu erfundenen Themen beginnt, die nicht der Oper entstammen, und die Opernmelodien in einer völlig veränderten Reihenfolge bringt.

Das Hauptthema des zweiten Violinkonzertsatzes erklingt in der Oper erstmalig im dritten Akt. Frieder hat einiges durchgestanden, um der Ehe mit der ungeliebten Trude zu entgehen, hat der Hölle einen Besuch abgestattet, dort das Tischlein-deck-dich, den Goldesel Briklebrit und den Knüppel-im-Sack erbeutet und die Antworten auf die Fragen, die die schieche Trude ihm gestellt hatte, gefunden. Nun kommt er stolz nach Hause und will der Mutter und den Nachbarn seine Errungenschaften vorführen. Aber Frieder rechnet nicht mit dem in das Chaos verliebten Kobold Hütchen, und so geht die Vorführung gründlich schief: Der Goldesel liefert nicht, das Tischlein bleibt leer, und der Zettel, auf dem Frieder sich die Antwort auf Trudes Rätselfragen notiert hatte, ist plötzlich blankweiß. Eben diese Szene grundiert Wagner mit dem Hauptthema des zweiten Satzes. Es erklingt zunächst, zu Frieders Worten „Jetzt hergelugt! Und aufgepaßt! So was saht Ihr noch nicht!“, in einer sechstaktigen Fassung, deren erster Takt immer wieder aufgegriffen wird, wenn Frieder und sein Publikum gespannt und vergeblich auf das Eselsgold warten:

Frieder versucht es nun mit dem Tischlein-deck-dich, das „versaget nicht!“, und lädt alle ein, sich ihre Leibspeisen zu bestellen. Nun erklingt das Thema mit einem Nachsatz, und damit in der zehntaktigen Version des Konzerts:

Natürlich werden auch die Bestellungen von Knödeln, Rippchen und Käsekuchen enttäuscht, wieder ist Frieder blamiert, und wieder bleiben von dem Thema nur ein- oder zweitaktige Bruchstücke, unterbrochen von erwartungsvollen Pausen. Auf Trudes Erkundigung „Wie steht es mit den Fragen?“ kann Frieder nur den leeren Zettel vorweisen, das Thema kommt über Ansätze, die dann auch harmonisch verfremdet werden, nicht mehr hinaus:

In seiner Analyse bezeichnet Paul Pretzsch, der dazu neigt, Wagners Themen als Leitmotive festzulegen, diese Melodie als Thema von „Frieders Selbstbewusstsein“. Tatsächlich kommt das Thema nur in den ersten Szenen des dritten Aktes vor, und wenn nach der ersten Szene darauf angespielt wird, geht es immer um den in seinen Erwartungen betrogenen und von Hütchen gefoppten Frieder.  

Wie dem auch sei: Es bedarf keines Beweises, dass dieses Thema in Wagners Konzert nicht die handlungsmäßige, programmatische Bedeutung hat, die ihm in der Oper zukommt. Es begegnet gleich zu Beginn des zweiten Satzes in einer Solo-Variante, wird von drei Themen aus dem zweiten Akt der Oper abgelöst, wird motivisch-thematisch durchgeführt, und so zur Wiederholung im Tutti geführt. Auf der Handlungsebene gibt es keine Verbindungen, die musikalische Behandlung in der Oper – die Dekonstruktion des Motivs und sein späterer fragmentarischer Einsatz – ist völlig verschieden. 

Eine der Oper folgende Storyline lässt im Konzert sich nicht finden, vielmehr bringt Wagner die bei der Komposition der Oper generierten Themen in einen neuen eher immanent-musikalisch, weniger inhaltlich-programmatisch geprägten Zusammenhang. Auch eine allenfalls charakterisierend wirkende Episode wie die „Spukmusik“ im zweiten Satz ab Ziffer 33 erreicht ja nicht einen Grad von Tonmalerei, die sie in dem neuen Kontext des Konzertes unverständlich oder fremdartig erscheinen ließe; sie erscheint vielmehr als erster Abschnitt einer Steigerungsepisode, aus der sich dann letztlich, nach Ziffer 46, wie mit einem Befreiungsschlag, das Hauptthema des Satzes, i.e. sein nach einem „triumphierenden“ G-Dur gewendetes Kopfmotiv, herauslöst.

Damit ist ein „inneres Programm“ angedeutet, das der Musik selbst innewohnt und verbal nur hilfsweise fassbar ist. (Indem ich Abschnitten des ersten Satzes Titel wie „Musik der Trauer“ und „Musik des Traums“ zuwies, habe ich solche Hilfen in Anspruch genommen.) Aus Trauer und Klage werden, nach einigen Zwischenstationen, Lebensfreude und überschwänglicher Jubel, auf dergleichen könnte man sich sicher einigen – die musikalische Realisierung dieses Topos ist Wagner originell und wirkungsvoll gelungen.

Eben weil ihm das wirkungsvoll gelungen ist, scheinen mir Versuche, das Konzert als klingende Autobiographie zu deuten, als unnötig – und bedenklich. Die Komposition des Violinkonzerts im Frühling des Jahres 1915 fällt in die Zeit, in der sich die Verlobung Wagners mit der damals noch siebzehnjährigen Winifred Williams zu konkretisieren begann. Diese Aussichten mögen inspirierend und euphorisierend gewirkt haben – darüber hinaus lässt sich wenig mit Bestimmtheit sagen, was die Musik nicht besser zu sagen wüsste. Ob das Konzert ohne diese Entwicklungen einen weniger optimistischen Schluss gefunden hätte, lässt sich nicht entscheiden. Es mag wohl sein, dass sich „diese Komposition hörbar einem besonders glücklichen Lebensabschnitt“ verdankte; dass sie der Hoffnung entstammte, „diese Kindfrau [Winifred Williams] noch selbst formen und zu liberalem Gedankengut führen zu können“ (Pachl) muss im Bereich der Vermutungen bleiben. 

Anmerkungen und Nachweise zu „Ist Hütchen an allem schuld?“

 

Marteau non maitre 

Wagner demonstriert in seinem Violinkonzert in diesem Stück eine außerordentliche Sensibilität für die Klangmöglichkeiten der Geige: Das beginnt schon mit dem allerersten Solo-Einsatz, der die Sonorität der G-Saite wunderbar ausnutzt, reicht über die vielen Umspielungsfiguren und das Traum-Thema in bester Lage bei Ziffer 8 bis zu den Doppelgriffen und Akkorden des Hauptthemas im zweiten Satz. Wagners Konzert ist kein Virtuosenkonzert, die geigentechnische Realisierung des Soloparts lässt eigentlich keine Wünsche offen. Aber andere sahen dies anders, und ich selbst bin nur Bratscher…

Henri Marteau (1874 – 1934), deutsch-französischer Geiger und Komponist und 1915 ein Weltstar, ist heute vor allem im Gedächtnis als Solist der Uraufführung des Violinkonzerts von Max Reger und als Nachfolger Joseph Joachims an der Berliner Musikhochschule. Er hat „nicht nur große Verdienste um die Violinmusik Mozarts, die er besonders liebte, häufig spielte und dadurch wieder ins Repertoire einführte, sondern genauso um Bachs Solosonaten und -partiten, die er oft im Konzert präsentierte“ (Harald Eggebrecht). Marteau hat eine Reihe von Violinkonzerten zum Beispiel Mozarts eingerichtet, i.e. mit Fingersätzen und Bogenstrich- bzw. Phrasierungsanweisungen versehen – auch das Violinkonzert Wagners. IMSLP kommentiert eine Einspielung des Konzerts bei dem Label cpo: „The cpo recording uses an arrangement/intensification of the violin part by one of the concerto’s advocates, Henri Marteau, made at the composer’s request.“ 

Von einem composer’s request kann nicht gut die Rede sein. Blanche Marteau zitiert in der Lebensbeschreibung ihres Mannes einen Brief von Daniela Thode (der ältesten Halbschwester Siegfried Wagners) vom Juli 1933: „Wie ergreifend schön wäre es, Siegfrieds Konzert vom Meister [Marteau] zu hören, welch großherziger Gedanke von ihm.“ Später kommentiert Frau Marteau: „ Daniela Thode zuliebe, deren rührende Anhänglichkeit an den verstorbenen Bruder Marteau bekannt war, unterzog er sich der Aufgabe, Siegfrieds Violinkonzert, das in der Originalfassung seinen geigerischen Ansichten widersprach, neu zu bearbeiten, um es mehrfach im Rundfunk und in öffentlichen Konzerten in den Jahren 1933/34 zu spielen.“ Ob nun „großherziger Gedanke“ Marteaus oder Liebesdienst für Daniela Thode – der Komponist selbst war seit drei Jahren tot. Marteaus Biograph Günter Weiß jedenfalls lässt keinen Zweifel daran, dass er das Engagement des Geigers für das Stück für eine Verirrung hält, die nur durch seine menschliche und weltanschauliche Nähe zu Bayreuth und der Familie Wagner erklärbar ist: „Ein besonders merkwürdiger Beweis hierfür ist die Tatsache, daß Marteau in den Zeiten der ‚Machtübernahme‘ durch Hitler sich auch des kompositorisch so mißratenen Violinkonzerts von Siegfried Wagner, eines glühenden Anhängers der Nationalsozialisten, annahm. Die gezielte Förderung von dessen Œuvre durch die Nationalsozialisten, selten zur Freude der ausführenden Künstler, ist bekannt.“ Dieses vernichtende Urteil einmal beiseite gelassen – es lässt sich zeigen, dass Marteaus Einrichtung oder Bearbeitung – hier einzusehen – keineswegs unproblematisch ist.

Es wird wohl keine zwei Geiger geben, die den Solopart dieses oder irgendeines anderen Konzertes mit exakt denselben Fingersätzen oder Strichen spielen: Auch wenn man nicht den Originaltext, sondern eine Einrichtung benutzt, wird man die Angaben des Einrichters als Vorschläge auffassen, die man modifiziert und den eigenen technischen und expressiven Bedürfnissen anpasst. Marteaus Fingersätze machen überreichlichen Gebrauch vom Lagenwechsel mit demselben Finger und zielen damit auf das zeittypische Portamento, das die heutigen Geiger in deutlich sparsamerer Dosierung verwenden. Hier die ersten 15 Takte der Sologeige mit Marteaus Fingersätzen:

Ebenfalls zeittypisch – und unserer Zeit typischerweise fraglich – ist wohl der Flageolett-Ton in T. 15 (der erste von sehr, sehr vielen), der als expressiver Effekt gemeint sein mag, aber den Fluss der Kantilene unterbricht.

Nun nennt Marteau seine Ausgabe nicht „Einrichtung“, sondern „Bearbeitung“ – und in dem angeführten Notenbeispiel ist ein einigermaßen erstaunlicher bearbeitender Eingriff zu sehen: In T. 19/20 ändert der Bearbeiter den Rhythmus des Originals, verzichtet auf die Punktierungen und die Zweiunddreißigstel und nimmt damit von der leidenschaftlichen Erregtheit der Musik, die konsequent auf den ersten Höhepunkt in T. 20 zuläuft, einiges weg. (Dazu stimmt, dass Marteau alle Akzente des Originals fortlässt.)

Auch andere Eingriffe scheinen mir unzulässig oder jedenfalls als eine Verschlimmbesserung des Wagnerschen Originals. So etwa Marteaus Idee, die bei Ziffer 8 einsetzende wunderbare Melodie der Sologeige mit einem eitlen hohen Flageolett abzuschließen und damit die melodische Linie zu korrumpieren:

Keinesfalls eine „Intensivierung“, sondern eine Glättung des Originals ist der Verzicht auf die Akkorde und Doppelgriffe zu Beginn des zweiten Satzes, die ja nicht virtuoser Zierrat sind, sondern der Musik etwas Borstiges und Widerspenstiges geben, ohne das sie ärmer scheint. Eine ähnliche dem Original abträgliche Wirkung hat das von Marteau geforderte Legato 6v23. Beide Beispiele legen nahe, dass der Bearbeiter wohl nur den Klavierauszug, nicht aber die Partitur kannte (die z.B. die im Klavierauszug nicht erkennbaren Offbeat-Paukenakzente zu Beginn des zweiten Satzes verzeichnet).

Marteaus Bearbeitung tut dem Werk keinen Gefallen. So ist man im Grunde dankbar, dass sich IMSLP irrt, dass die oben erwähnte Einspielung keineswegs Marteaus „arrangement/intensification of the violin part“ benutzt. Ulf Hölscher does nothing of the sort und spielt, Note für Note, das Wagnersche Original. 

Anmerkungen und Nachweise zu „Marteau non maitre“

 

Blick über die Alpen – Blick nach vorn 

Es mag irritieren, wenn nun plötzlich der Komponist Giacomo Puccini ins Spiel kommt, dessen Werke in Bayreuth ja neidisch angesehen wurden und verpönt waren. Der kurze Blick über die Alpen soll aber eine letzte Facette in der Würdigung des Wagnerschen Violinkonzerts beisteuern helfen.

Im Jahr 1915, während Wagner an seiner Oper An allem ist Hütchen schuld!  und seinem Violinkonzert arbeitet, ringt in Italien Giacomo Puccini mit seinen Librettisten um die endgültige Gestalt seiner Oper Der Mantel, dem ersten Stück des Trittico. Puccini feilscht um jedes Wort und versucht mit großer Genauigkeit, seine szenischen Ideen durchzusetzen – hier mehr dazu. Aber auch wenn er versucht, dem Geschehen möglichst große Authentizität und Plausibilität zu verleihen – das letztlich entscheidende Kriterium ist das der Wirkung. 

Auch wenn Wagners und Puccinis Ideale von Oper sehr verschieden sein mögen – die szenisch-musikalische Wirkung stand hier wie jenseits der Alpen im Zentrum der Bühnenkomponisten. Den Sinn für und die Bemühung um Wirkung hat Wagner von der Bühne in den Konzertsaal übernommen. Wenn im ersten Satz nach den 44 Takten Musik der Trauer die Stimmung plötzlich sich aufhellt und über der bewegten Fläche des Orchester die zarte Melodie der Sologeige einsetzt, ist das sehr anrührend und von unmittelbarer Wirkung. Wenn im zweiten Satz nach der langen Steigerung, aus dem fast tumultuösen Spiel der verschiedenen Themen und Motive bei Ziffer 44 im Fortissimo des Orchesters mitsamt den clever vorgehaltenen Trompeten und Schlagzeug das „jubelnde Thema der Lebenslust“ (Pretzsch) durchbricht, ist das von umwerfender Wirkung, auch wenn das formanalytische Gewissen sich fragen mag, wo dieses Thema nun herkommt und wie es begründet sein mag. 

Damit sollen meine Versuche, in den beiden Sätzen des Violinkonzertes traditionelle Formkonzepte (in individueller Überformung) aufzufinden, keineswegs überflüssig werden. Um einem Werk gerecht zu werden, dessen ästhetische Prämissen von einer Wirkungsästhetik (im Gegensatz zu Formästhetik), mitbestimmt werden, muss man den Nachweis eines Entwicklungszusammenhangs (der etwa auf Formideen und motivisch-thematischen Beziehungen beruht) jedoch ergänzen – die Freude an Überraschungseffekten oder auch nur an der Kontrastierung von Stimmungen gehört zu dem Stück dazu. Das Streben nach unmittelbarer Wirkung führte Wagner, der stolz auf seine melodische Erfindungsgabe war, jedenfalls dazu, das Bemühen um thematische Ökonomie durch ein multithematisches Konzept, das Ideal der Sparsamkeit durch ein Ideal der Fülle zu ersetzen. Es brachte ihn, der doch unzweifelhaft „ein vom poetischen Inhalt unabhängiges musikalisches Formgefühl“ besaß (Kiesel), dazu, individuelle Formungen zu realisieren, ohne deswegen formlos zu sein.

Dass Siegfried Wagners Konzert für Violine mit Begleitung des Orchesters diese Wirkung auch im Konzertsaal erzielen kann, ist nun schon einige Male bewiesen worden. Hoffentlich erhält das Stück auch in Zukunft Gelegenheiten dazu. Für diese Gelegenheiten liegt hier bereits der passende Programmheftaufsatz vor – der Versuch, für den eiligen Blick des unbelasteten Konzertbesuchers zusammenzufassen, was in diesem Beitrag so mühevoll und überausführlich ausgebreitet wurde.

Anmerkungen und Nachweise zu „Blick über die Alpen – Blick nach vorn“

 

 

Literaturverzeichnis

Zum Anfang

 

Damit liegt ein weiterer – der umfangreichste! – Beitrag meines Projektes „Sieben unerhört hörenswerte Violinkonzerte“ vor. Hier geht es zur einer Kurzdarstellung dieses Projekts und zu den anderen Beiträgen.